Julia Festival 94
schmeichelhaft, und ihr blasses Gesicht war ungeschminkt. Sie wollte zweifellos tüchtig, aber unauffällig wirken, ohne groß auf sich aufmerksam zu machen. Sie schien damit auch Erfolg zu haben, denn bisher hatte keiner von Leones Mitarbeitern versucht, mit ihr zu flirten.
Waren denn alle Männer in diesem Zimmer – er selbst ausgenommen – blind? Erkannte nur er, welches Versprechen in diesen silbergrauen Augen lag und was die vollen roten Lippen versprachen? Anders angezogen, würde sie bedeutend interessanter wirken als jede landläufige Schönheit, denn ihr Teint gab ihr etwas zugleich Ätherisches und Sinnliches, das in dieser Verbindung selten war. Feine Seidenwäsche würde ihr hervorragend stehen, und die langen, schlanken Beine forderten geradezu hauchdünne Strümpfe und Sandaletten mit sehr hohen Absätzen.
Melissa – oder Misty, wie sie sich lieber nannte – war für eine Frau groß, aber Leone überragte sie immer noch genug, um hohe Absätze nicht fürchten zu müssen. Ein spöttischer Ausdruck erschien in seinen dunklen Augen. Natürlich würde er nicht nur Unterwäsche für sie aussuchen, aber der erste Blick eines echten Sizilianers galt nun einmal den angeborenen Reizen einer Frau und nicht ihrer Kleidung.
In wenigen Wochen würde Misty Carlton zu den bekanntesten Frauen Londons gehören. Als seine Geliebte würde sie von der Klatschpresse verfolgt werden. Man würde in ihrer Vergangenheit herumstochern, und wenn nicht genug dabei herauskam, würde er den Reportern die notwendigen Hinweise geben. Es sollte ihm nicht umsonst gelungen sein, Licht in Mistys Vergangenheit zu bringen. Seit sechs Monaten wusste er, wer sie war, und seitdem hatte sie sich immer mehr in dem für sie ausgelegten Fangnetz verstrickt.
Melissa Carlton war Oliver Sargents uneheliche Tochter – er war der Mann, dem Leone im Namen seiner Schwester Rache geschworen hatte. Oliver Sargent, ein angesehener Politiker, dessen Ruf sich vornehmlich auf seine Moralpredigten gründete, der ein scheinbar harmonisches Familienleben führte und doch nur ein Heuchler war. Oliver Sargent, der Teenager verführte und wenig besser als ein Mörder war. Oliver Sargent, der Battista Andracchi in den Trümmern ihres Autos hatte sterben lassen, um einen Skandal zu vermeiden.
Leones dunkles, markantes Gesicht nahm einen düsteren Ausdruck an. Obwohl die Beerdigung seiner Schwester jetzt fast ein Jahr zurücklag, schmerzte ihn die Erinnerung immer noch. Die Ärzte hatten damals erklärt, dass sie den Unfall bei rechtzeitiger Behandlung überlebt hätte, aber Oliver Sargent hatte keine Hilfe geholt. Er hatte die neunzehnjährige Politikstudentin, die in seiner Abteilung ein Praktikum absolvierte und ganz offensichtlich für den älteren verheirateten Mann schwärmte, einfach sterben lassen.
„Mr. Andracchi …“
Leone warf einen überraschten Blick auf das Mandelgebäck und die Cremetörtchen, die Misty ihm mit nicht ganz sicherer Hand zureichte. Traditionelle sizilianische Spezialitäten hier in London? Er hob den Kopf und bemerkte, wie angespannt Misty war. Die bläulichen Schatten unter den Augen machten ihr Gesicht fast noch reizvoller, und die langen braunen Wimpern erinnerten an die eines Kindes. Sie war nervös, verzweifelt, denn sie fürchtete, das Geschäft zu verlieren, um das sie so schwer gekämpft hatte. Das war sein Werk. Er hielt ihr Schicksal in der Hand, und genau das hatte er gewollt.
„Vielen Dank“, murmelte er, ohne sich durch diesen offensichtlichen Bestechungsversuch beeindrucken zu lassen. Bei Vertragsabschlüssen zählten Kapital, Leistung und Rentabilität – Gesetze, die Misty in mehrfacher Hinsicht verletzt hatte. „Nucatoli und Pasta ciotti … was für eine nette Überraschung. Sie verwöhnen mich.“
Die Ader unter Mistys Schlüsselbein pochte heftig und lenkte Leones Aufmerksamkeit auf ihre zarte, schimmernde Haut. „Es macht Spaß, gelegentlich etwas Neues auszuprobieren.“
„Geht uns das nicht allen so?“ Leone kostete von einem Cremetörtchen, während Misty weiter wie eine demütige Dienerin mit dem Serviertablett neben ihm stand. Er schätzte diese Stellung, und das Cremetörtchen zerging auf der Zunge. Vielleicht würde sie sich in ihrer Freizeit in seiner Küche nützlich machen. Sie schien darauf aus zu sein, andern zu gefallen, aber sie wirkte viel zu nervös. So deutlich gezeigte Nervosität musste jeden Interessenten an ihrer wirtschaftlichen Lage zweifeln lassen.
„Köstlich“,
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