Julia Festival 94
noch nicht, ob er für ein Jahr verlängert werden würde. Falls nicht, war sie bankrott.
Seufzend fuhr Misty mit ihrer Arbeit fort. Der hübsche Clubraum war gedrängt voll, und die rein männliche Atmosphäre wirkte bedrückend, aber von keinem Anwesenden ging so viel Spannung aus wie von Leone Andracchi.
Er war der sprichwörtliche sizilianische Tycoon, märchenhaft reich, absolut skrupellos und völlig unberechenbar. Er beherrschte den Raum wie eine große schwarze Wolke, aus der sich jeden Moment der tödliche Blitz entladen konnte. Seine Mitarbeiter umschlichen ihn wie ängstliche Hunde, schmeichelten ihm und versuchten, ihm zu Willen zu sein. Ein Stirnrunzeln des Allmächtigen, und sie wurden kreidebleich. Dabei war Leone Andracchi erst dreißig Jahre alt. Zu jung, wie es hieß, um so viel Macht zu besitzen, aber als Geschäftsmann unschlagbar.
Misty verwünschte das Schicksal, das sie zwang, sich vor diesem Mann, einem Macho der übelsten Art, zu demütigen. Wie ein Tiger hatte er geschnurrt, als sie ihm die sizilianischen Spezialitäten angeboten und auch noch den Kaffee gesüßt hatte! Alles in ihr hatte dagegen rebelliert, denn es lag ihr nicht, vor anderen auf dem Bauch zu kriechen.
Vielleicht war sie ihm mit dem Mandelgebäck und den Cremetörtchen zu weit entgegengekommen, aber was blieb ihr übrig, solange ihre Lage so prekär war? Sie musste ja auch an Birdie denken, die ihr Heim verlieren würde, wenn es ihr, Misty, nicht gelang, den neuen Auftrag zu bekommen. Und für Birdie war ihr kein Opfer zu groß.
„Dieser Mr. Andracchi ist einfach hinreißend“, flötete Clarice, Mistys Freundin und Angestellte, während sie gemeinsam Tassen in Container stapelten. „Ich brauche ihn nur anzusehen, um mich wie im siebten Himmel zu fühlen.“
„Schsch.“ Misty errötete vor Ärger. Eine Serviererin, die den Chef mit schmachtenden Blicken verfolgte, war kaum eine Empfehlung für „Carlton Catering“.
„Du siehst ja selbst dauernd zu ihm hin“, verteidigte sich Clarice, ehe sie mit betontem Hüftschwung weiterschwebte.
Misty sah ihr wütend nach. Immer schob Clarice ihr falsche Motive unter, aber wenn man so ansehnlich gebaut war, mochte das verzeihlich sein. Natürlich beobachtete sie Leone Andracchi, aber nur aus Vorsicht und aus dem unangenehmen Gefühl heraus, dass er sie ebenfalls nicht aus den Augen ließ. Manchmal kam es ihr fast so vor, als verfolgte er sie mit seinen Blicken. Dann erschien ein eigenartiger Schimmer in den dunklen Augen, der sie nervös und hoffnungslos verlegen machte.
Ungewöhnlich genug, dass sie den Chef eines so gewaltigen Industrieunternehmens wie „Andracchi Industries“ überhaupt persönlich zu Gesicht bekam. Schließlich leitete sie nur einen bescheidenen Catering-Betrieb, und ihr Probevertrag bezog sich nur auf „Brewsters“, eine von vielen anderen Gesellschaften, die zusammen den Andracchi-Konzern bildeten.
Hinzu kam noch, dass „Brewsters“ nicht in London, sondern bei einer kleinen Stadt in Norfolk lag. Trotzdem hatte sich Leone Andracchi die Mühe gemacht, sie anlässlich eines Besuchs bei „Brewsters“ persönlich zu empfangen und einen befristeten Vertrag mit ihr abzuschließen. Es war nicht seine Schuld, dass sie inzwischen das Gefühl hatte, sich etwas zu viel zugemutet zu haben.
„Mr. Andracchi ist eben ein richtiger Mann“, seufzte Clarice, als sie wieder bei Misty vorbeikam. „Nur Muskeln und geballte Energie. Wer da nicht an tollen Sex denkt …“
„Er hat einen verheerenden Ruf, was Frauen betrifft“, erwiderte Misty giftig. „Und jetzt tu mir den Gefallen, und vermeide dieses Thema.“
„Ich wollte dich nur zum Lachen bringen“, verteidigte sich Clarice. „Nimm doch bloß nicht immer alles so ernst.“
Misty bereute ihre scharfen Worte sofort. Sie war gereizt, aber auch ihre beste Freundin ahnte nicht, wie schlecht es um „Carlton Catering“ stand. Wenn ihr Vertrag nicht verlängert wurde, konnte sie von der Bank keine weitere Unterstützung erwarten. Sie würde weder ihre Angestellten noch ihre Lieferanten bezahlen können, und alles würde mit einem peinlichen Konkursverfahren enden.
Ein blonder junger Mann in einem teuren Anzug trat auf Misty zu. „Mr. Andracchi erwartet Sie in seinem Büro, Miss Carlton.“
Ungewöhnlich, dass sich der Chef persönlich mit solchen Nebensächlichkeiten abgab, aber was hatte er vor einigen Monaten zum Erstaunen der Belegschaft verkündet?
„Der Lunch wird in Sizilien als kleines
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