Julia Festival 94
verachtete ihn. Warum hatte ihr das nicht die Kraft gegeben, seinem Kuss zu widerstehen?
3. KAPITEL
Misty stieg in den kleinen Lieferwagen, der auf dem Parkplatz von „Brewsters“ stand, und fuhr zu den Geschäftsräumen, die sie außerhalb der Stadt gemietet hatte. Dort endete jeder Arbeitstag mit einer gründlichen Reinigung, bei der sie ihre drei Mitarbeiterinnen kollegial unterstützte. Kurz nach fünf Uhr konnte sie endlich abschließen, aber sie tat es schwereren Herzens als sonst. Die Erkenntnis, dass ein verlorener Vertrag sie an die Grenze des Bankrotts bringen konnte, war zu niederdrückend.
„Carlton Catering“ bestand seit gut einem Jahr. Misty hatte bescheiden angefangen – mit privatem Partyservice und gelegentlichen Hochzeiten. Ihre Devise hatte gelautet: kein Luxus, aber dafür niedrige Kosten.
Vor fünf Monaten hatte sie von einem ihrer Lieferanten erfahren, dass ein Caterer für „Brewsters“, die größte und renommierteste Firma der Stadt, gesucht wurde. Da sie schon länger mit dem Gedanken gespielt hatte, ihren Betrieb zu vergrößern, war sie mit einem Niedrigangebot allen Konkurrenten zuvorgekommen und hatte den Auftrag erhalten. Ein zweiter Lieferwagen und eine moderne Betriebsausstattung waren die ersten sichtbaren Zeichen dieses Erfolgs.
Doch danach ging eigentlich alles schief. Rowdys verwüsteten ihre Geschäftsräume, und die Versicherung weigerte sich – mit Hinweis auf mangelnde Sicherheitsvorkehrungen –, den Schaden zu bezahlen. Die Reparaturen verschlangen Mistys Rücklagen und entzogen „Carlton Catering“ damit die sichere Grundlage.
„Sie müssen Ihre persönlichen Ausgaben einschränken, um den Verlust auszugleichen“, hatte ihr Bankberater erst vor sechs Wochen gesagt. „Obwohl Sie kaum über Bargeld verfügen, zahlen Sie weiter die Hypothek ab, die auf einem Haus liegt, das Ihnen nicht gehört. Ich bewundere Ihre Großzügigkeit gegenüber Mrs. Pearce, aber Sie dürfen nicht übersehen, dass Sie sich damit ruinieren.“
Misty musste an diese Worte denken, während sie nach Hause fuhr. Birdie Pearce wohnte in einem baufälligen alten Landhaus, das „Fossetts“ hieß und seit Generationen im Besitz der Familie ihres verstorbenen Ehemanns war. Da Robin und Birdie keine eigenen Kinder bekommen konnten, hatten sie ihr Haus über dreißig Jahre lang für fremde Kinder offen gehalten, mit denen das Leben nicht besonders sanft umgegangen war.
Misty war eins dieser Kinder, und auch sie zog unglücklich, verbittert und misstrauisch in „Fossetts“ ein. Sie war gerade zwölf geworden und verbarg ihre Verletzbarkeit hinter Härte und Gleichgültigkeit. Robin und Birdie gaben sich große Mühe, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen. Sie schenkten ihr Sicherheit und glaubten an sie, und diese Schuld, die eine Verpflichtung, aber keine Last war, konnte Misty niemals abtragen.
Seit vierzehn Monaten diente der größte Teil ihres Einkommens dazu, Birdie ihr Heim zu erhalten. Birdie ahnte nichts davon, denn bis zu seinem Tod hatte Robin die Finanzen geregelt, und Misty hatte diese Aufgabe von ihm übernommen. Mit Entsetzen hatte sie feststellen müssen, dass „Fossetts“ bis zum letzten Dachziegel belastet war. Robin hatte sich ziemlich unbedenklich von der Bank Geld geliehen, ohne jemandem davon Mitteilung zu machen, und so gehörte das Haus praktisch nicht mehr Birdie, sondern der Bank.
Birdie war jetzt Anfang siebzig. Sie hatte ein schwaches Herz und stand auf der Warteliste für eine Operation, auf die man große Hoffnungen setzte. Bis dahin war sie äußerst schonungsbedürftig, und ihr Arzt versicherte immer wieder, dass Ruhe unerlässlich für sie sei. Birdie liebte das alte Haus, und außerdem war es das letzte Bindeglied zu Robin, den sie verehrt hatte. Anfangs war es nur Mistys Bestreben gewesen, alle Geldsorgen von Birdie fernzuhalten. Welche Opfer es kosten würde, „Fossetts“ für die alte Dame zu erhalten, hatte sie nicht geahnt.
Es war ein großes, fast mittelalterlich wirkendes Haus mit einem steilen Dach und ungewöhnlich geschwungenen Giebelfenstern. Es stammte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und stand inmitten alter Buchen, mit einer weiten Rasenfläche davor.
Misty parkte den Lieferwagen und warf beim Aussteigen einen bekümmerten Blick auf das alte Haus. „Fossetts“ begann, vernachlässigt zu wirken. Einen Gärtner konnte man schon lange nicht mehr bezahlen, die Fenster hingen teilweise schief in den Angeln, und die
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