Julia Festival 94
konnte?
Sie gewann viel, wenn sie die – eher lächerliche – Rolle als seine Geliebte spielte. „Carlton Catering“ würde bestehen bleiben, die Angestellten würden ihren Lohn bekommen, und sie konnte weiter die Hypothek abzahlen, die auf Birdies Haus lag. Was bedeuteten zwei Monate ihres Lebens, wenn andere dadurch so viel gewannen? Das Apartment und die Luxusgarderobe waren ihr gleichgültig, aber die Existenz so vieler Menschen zu retten …
Diesmal benutzte Misty den Lift, um schneller oben zu sein. Sie hatte gehofft, Leones Büro unbemerkt zu erreichen, aber es war wie verhext – er stand draußen auf dem Korridor und unterhielt sich mit zwei Männern.
Misty blieb unschlüssig stehen. Natürlich hatte Leone sie längst bemerkt, aber es machte ihm Spaß, sie zu ignorieren. Er gab sich sogar betont lässig, schob beide Hände in die Hosentaschen und hatte nur Augen und Ohren für seine Gesprächspartner.
Misty wusste nicht, wie lange sie dagestanden hatte, aber endlich drehte sich Leone wie zufällig um und warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Die Antwort ist Ja“, sagte sie so leise, dass er es gerade noch verstehen konnte.
„Melissa, Liebes …“ Er kam mit strahlendem Lächeln auf sie zu und nahm ihre Hand. „Sie entschuldigen mich, meine Herren?“
Er zog Misty in sein Büro, ohne die Tür zu schließen. Ehe sie etwas sagen konnte, nahm er sie in die Arme und küsste sie, so wild und leidenschaftlich, dass es ihr den Atem nahm. Er ließ die Zunge zwischen ihre Lippen gleiten und drückte Misty fest an sich. Er war erregt, aber entgegen ihrer Erwartung stieß sie das nicht ab. Sie schmiegte sich sogar dichter an ihn und überließ sich willenlos seinem Verlangen.
Ebenso plötzlich, wie er den Kuss begonnen hatte, beendete er ihn. „Ich denke, das war eine überzeugende Demonstration unserer Absichten“, sagte er und atmete tief ein. Seine dunklen Augen glänzten, und eine leichte Röte ließ die Wangenknochen stärker hervortreten.
Es gelang Misty nicht, sich so schnell zu fassen. Ihre Beine drohten nachzugeben, sie schwankte und musste sich an der Wand abstützen. Sie konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Anstatt sich zu wehren, hatte sie dem Ansturm nachgegeben und eine tiefe innere Befriedigung dabei empfunden. Ihr Körper hatte sie verraten, und daran war nur Leone schuld. Er spielte mit ihr und entlockte ihr Reaktionen, die sie nicht steuern konnte.
„Unserer … Absichten?“, wiederholte sie stockend. Die Tür zum Korridor stand noch offen, aber die beiden Männer waren inzwischen verschwunden. Zu spät, wie Misty zerknirscht feststellte. Sie, die sich so gern als nüchterne Geschäftsfrau sah, hatte vor Zeugen ihre Würde als Frau verloren.
„Die Gelegenheit war zu günstig, um sie zu verpassen.“ Leone hielt den Blick gesenkt.
Misty wurde von solcher Wut erfasst, dass sie ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte. „Und Sie haben behauptet, dass Sie Ihre Angestellten nicht sexuell belästigen!“
„Wenn Sie glauben, dass wir als Liebespaar gelten können, ohne das gelegentlich zu beweisen, müssen Sie sehr naiv sein“, erklärte Leone ungerührt. „Aber diese Beweise sind nur für die Öffentlichkeit gedacht. Privat entfallen sie.“
„Das brauchen Sie nicht zu betonen.“ Misty war zu aufgebracht, um Leones Nähe länger ertragen zu können. Zu spät musste sie einsehen, dass sie die Rolle der falschen Geliebten angenommen hatte, ohne sie bis in die letzten Konsequenzen zu durchdenken. Dafür hasste sie sich und ihn. „Darf ich jetzt gehen?“
Leone nickte. „Ich erwarte Sie heute Abend um neun Uhr in meinem Hotel, damit wir die notwendigen Einzelheiten besprechen können. Ich wohne im ‚Belstone House‘.“
„Heute Abend passt es mir nicht.“ Misty konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.
„Es wird Ihnen passen“, antwortete Leone nur. „Morgen fahre ich nach London zurück.“
Misty machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro. Sie war wütend, aber mehr auf sich selbst als auf Leone. Wie hatte sie sich in seinen Armen so vergessen können? Doch alles war so neu gewesen … so anders. Selbst bei Philip, ihrer ersten Liebe, hatte sie nicht so empfunden.
Doch das war lange her. Wusste sie wirklich noch, was sie mit neunzehn gefühlt hatte? Vielleicht war der Unterschied gar nicht so groß. Leone Andracchi hatte sie überrumpelt und seinen Vorteil ausgenutzt. Aber ein Punkt quälte Misty immer noch. Sie hasste diesen Mann,
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