JULIA FESTIVAL Band 97
noch nicht überzeugt, und Raphael gestand sich ein, dass auch er plötzlich Bedenken hatte. Zum ersten Mal brachte er eine junge Frau mit zu seiner Tochter. Obwohl er sich immer wieder einzureden versuchte, es sei alles ganz harmlos und er habe keine Hintergedanken, wäre es nicht nötig gewesen, Tess mitzunehmen.
Nachdem sie den Gurt gelöst hatte, stieg sie aus. Im Sonnenschein sah sie mit den geröteten Wangen und dem hellblonden Haar ungemein jung und schön aus. Er stieg auch aus und legte sich das Jackett über die Schultern. Ihm war klar, dass Maria misstrauisch sein würde. In den letzten sechs Jahren hatte sie ihn immer wieder gedrängt, sich eine neue Partnerin zu suchen. Aber dabei hatte sie bestimmt nicht an eine so junge Engländerin gedacht.
In dem Moment hörte er die Stimme seiner Tochter. Sie kam mit einem Korb mit weißen und gelben Blumen aus dem Garten und rief ihm etwas zu. Maria hatte das lange dunkle Haar zu einem Zopf geflochten, und ihr Kleid aus feiner weißer Baumwolle betonte ihre gebräunte Haut.
Sie war eine elegante junge Frau und passte in die Umgebung. Raphael seufzte wehmütig. Maria sah immer perfekt aus, so hatte seine Mutter sie erzogen.
Es war nicht zu übersehen, wie verschieden Maria und Tess waren. Maria zog beim Näherkommen fragend die Augenbrauen hoch. Ihre Miene verriet Raphael, wie wenig erfreut sie darüber war, dass er jemanden mitgebracht hatte, ohne ihr zuvor Bescheid zu sagen.
„Dad“, begrüßte sie ihn herzlich. Er ging ihr entgegen, und sie küsste ihn auf die Wangen. „Avresti dovuto dirmelo che …“
„Sprich bitte Englisch, Maria“, unterbrach Raphael sie ruhig, ehe er sich an Tess wandte. „Tess, das ist meine Tochter Maria. Maria, ich möchte dir Tess Daniels vorstellen. Du erinnerst dich sicher, dass ihre Schwester momentan in der Medici Galleria in San Michele arbeitet.“ Sekundenlang hatte er das Gefühl, seine Tochter hätte ein schlechtes Gewissen. Der Name kam ihr offenbar bekannt vor.
„Wie geht es Ihnen, Miss Daniels? Haben Sie einen schönen Urlaub?“ Maria reichte Tess die Hand.
„Tess macht hier keinen Urlaub“, mischte Raphael sich ein. „Sie vertritt ihre Schwester in der Galerie“, fügte er hinzu und legte Tess die Hand auf die Schulter. „Hoffentlich hast du nichts dagegen, dass wir dich einfach überfallen, Maria. Ich habe Tess eingeladen mitzukommen, um ihr die Umgebung zu zeigen.“
Maria kniff die Lippen zusammen. „Du hättest mich anrufen können, Dad. Sind Sie zum ersten Mal in Italien, Miss Daniels?“, wandte sie sich dann an Tess.
„Ja.“ Tess spürte Marias Vorbehalte. „Nennen Sie mich doch Tess.“ Sie sah sich um und warf schließlich einen vielsagenden Blick auf Raphaels Hand. „Das ist ein wunderschönes Anwesen.“
Marias Miene hellte sich auf. Sie beobachtete die beiden jedoch so genau, dass Raphael langsam die Hand zurückzog. „Ja, das ist es wirklich“, stimmte sie zu. Dann blickte sie wieder ihren Vater an. „Bleibt ihr zum Essen, oder soll es nur ein Kurzbesuch sein?“
Raphael zuckte die Schultern. „Wir haben es nicht eilig, Liebes“, antwortete er. „Aber wir sind durstig und würden uns über etwas zu trinken freuen. Ob wir zum Essen hierbleiben, können wir später entscheiden, oder?“
Maria rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich, Dad. Bitte, kommt mit. Wir setzen uns auf die Terrasse.“
6. KAPITEL
Maria führte ihren Vater und Tess zwischen Eichen und Zypressen hindurch auf die Sonnenterrasse. Es duftete nach Pinien und Meer. Am Strand unterhalb des Hotels lagen einige Gäste auf ihren Badetüchern in der Sonne, während die Kinder im Sand spielten oder Muscheln suchten. Viali lag auf einer Landzunge, und die Klippen oberhalb des Ortes waren mit Pinien und Fichten bewachsen. Es war wirklich ein wunderschönes Fleckchen Erde.
Die Terrasse war von dem Hotelbetrieb durch Spaliere getrennt, an denen blühende Blumen rankten. Unter dem grünen Sonnenschirm standen ein Tisch und mehrere Sessel. Maria bat die Hausangestellte, die sogleich herbeieilte, erfrischende Drinks und eine Flasche Chianti zu bringen. Dann forderte sie Tess mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen.
Obwohl Maria sie sehr höflich behandelte, spürte Tess, wie wenig erfreut sie über ihren Besuch war. Natürlich verbarg sie es geschickt, nicht zuletzt ihrem Vater zuliebe, doch Maria schien ihre Anwesenheit als störend zu empfinden.
Ich hätte nicht mitfahren dürfen, ich passe nicht hierher, dachte
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