JULIA FESTIVAL Band 97
schließlich.
„Ich glaube, ich würde ihn mehr vermissen, wenn ich mit ihm zusammengelebt hätte“, gab sie offen zu. „Ich habe schon erwähnt, dass ich nach dem Tod meiner Mutter bei meiner Tante aufgewachsen bin. Nach dem Studium bin ich in einen anderen Teil Englands gezogen. Mein Vater und ich haben uns immer noch ab und zu gesehen, es war jedoch nicht mehr so wie früher.“
„Ihre Schwester ist Ihrer Stiefmutter offenbar ähnlicher, als Sie wahrhaben wollen“, stellte er fest.
„Oh, Andrea ist ganz in Ordnung“, entgegnete Tess sogleich. Raphael bewunderte sie dafür, dass sie so loyal war. „Sie wollte nur ein Kind haben. Zwei Kinder waren für sie zu viel.“
„Sie hat doch gewusst, dass Ihr Vater ein Kind hatte, als sie ihn geheiratet hat“, wandte Raphael ein.
Tess betrachtete ein Insekt, das sich auf ihrem Bein niedergelassen hatte. „Ist das eine Stechmücke?“, wechselte sie das Thema.
Er streckte die Hand aus, schnippte die Mücke weg und berührte dabei Tess’ nackte Haut. Erst als er die Hand wieder auf das Lenkrad legte, wurde ihm bewusst, was er gerade getan hatte. Tess ist nicht meine Tochter, mahnte er sich. Sie war noch nicht einmal seine Cousine, sondern eigentlich eine Fremde. Er behandelte sie jedoch wie eine gute Bekannte oder eine Freundin. Am liebsten hätte er sie noch einmal berührt, aber an ganz anderen Stellen.
Sie tauschten einen innigen Blick, und Raphael war selbst überrascht darüber, welche Gefühle Tess in ihm weckte. Sie rückte weiter von ihm weg an die Tür neben ihr und sah zum Fenster hinaus, so als spürte sie, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte.
Schweigend und in Gedanken verloren fuhren sie weiter und taten so, als interessierten sie sich für die Landschaft um sie her. Raphael war sich sicher, dass Tess so ähnlich empfand wie er. Aber vielleicht bildete er sich das alles nur ein. Du liebe Zeit, ich bin zu alt für solche kindischen Spielchen, mahnte er sich gereizt.
Seine Gefühle waren jedoch keineswegs kindisch, und die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Als die Villen entlang der Küste in Sicht kamen, atmete er erleichtert auf. „Das ist Viali“, erklärte er betont unbekümmert. „Es ist praktisch ein Vorort von Viareggio geworden. Der Hafen wurde immer weiter ausgebaut. Viali ist ein schöner Ort und hat einen ganz besonderen Reiz. Obwohl es architektonisch nichts zu bieten hat, leben viele Menschen lieber hier als in Viareggio.“
„Wohnt Ihre Tochter in Viali?“, fragte Tess.
Raphael war froh darüber, dass sie sich auf das unverfängliche Thema einließ. „Das Hotel liegt außerhalb von Viali in Richtung Viareggio. Um diese Jahreszeit haben sie nicht viele Gäste. Deshalb hat Maria sicher Zeit, um mit uns zu reden.“
Die Villa Puccini, wie das idyllisch in üppiger Vegetation gelegene Hotel hieß, wirkte luxuriös und verträumt. Das Wasser des nierenförmigen Swimmingpools war genauso blau wie das des Golfs von Genua, dessen Wellen an den Sandstrand unterhalb des Parks rollten. Raphaels Stimmung hellte sich auf, als er merkte, wie beeindruckt Tess war.
„Das ist das Hotel Ihrer Tochter?“, fragte sie, als er auf die Einfahrt abbog.
„Gefällt es Ihnen?“ Raphael fuhr langsam an einer Gruppe von Urlaubern vorbei, die in Richtung der Stadt wanderten. „Carlos Familie ist in der Tourismusbranche tätig. Dies hier ist eins der kleineren Hotels der Familie und das erste, das Carlo allein führt.“
„Ah ja, eins der kleineren Hotels.“ Tess konnte es kaum glauben. „Es ist viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Unter einem albergo verstehe ich eher eine Pension, in der man Zimmer mit Frühstück bekommt.“
Raphael lächelte. „Nein, Tess, ein albergo kann ein großes oder ein kleineres Hotel sein. Die Villa Puccini ist ein mittelgroßes.“
Tess schüttelte den Kopf, als sie an den blühenden Spalieren vorbeifuhren und die Gebäude mit den orangefarbenen Dächern zu sehen waren. Offenbar hatte man das Hotel im Laufe der Jahre immer wieder durch Anbauten vergrößert. Es schien einen ganz besonderen Charme auszustrahlen, und der Blick auf die Bucht und das Meer war geradezu atemberaubend schön.
„Ich finde es beeindruckend“, erklärte Tess und betrachtete unsicher ihre nackten Beine.
„Die Gäste sind Urlauber und nicht anders gekleidet als Sie“, versicherte er ihr ruhig. Er stellte den Motor ab und löste den Sicherheitsgurt. „Ich ziehe auch gleich das Jackett aus.“
Tess war
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