JULIA FESTIVAL Band 97
und Verpflegung.“
Er legte den Kugelschreiber hin und blickte auf. „Ja, ich weiß“, antwortete er ruhig.
Lucia sah ihn verblüfft an. „Wie bitte? Woher denn? Und seit wann? Wenn du es mir verheimlicht hast …“
„Marco ist vor einer halben Stunde zurückgekommen“, unterbrach er sie erschöpft. „Er und seine Begleiterin sind heute Morgen zurückgeflogen. Ich hätte ihn am Flughafen in Pisa abgeholt, wenn er mich angerufen hätte. Aber sie haben ein Taxi genommen. Er ist auf seinem Zimmer und packt seine Sachen aus.“
Seine Mutter ließ sich in einen Sessel sinken. „Ist das alles?“, fragte sie fassungslos. „Der Junge kommt nach Hause, und du tust so, als wäre alles in bester Ordnung. Er hat weder dir noch mir gehorcht. Das wirst du ihm hoffentlich nicht durchgehen lassen.“
„Ich habe nicht vor, ihn zu bestrafen, wenn du das meinst“, erwiderte er freundlich. „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass er vielleicht nur deshalb so aufsässig ist, weil wir zu streng sind?“
„Er ist noch ein Kind, Raphael“, fuhr Lucia ihn zornig an. „In seinem Alter bist du noch zur Schule gegangen.“
„Das tut Marco auch“, erinnerte er sie. „Nur weil ich mich geweigert habe, meinen Sohn in das Internat in Rom zu schicken, in dem ich war, wird weder seine Ausbildung noch seine Erziehung vernachlässigt.“
„Du warst sowieso dagegen, ihn Priester werden zu lassen, obwohl es mein größter Wunsch war“, entgegnete Lucia.
„Zum Priester muss man sich eignen, Mutter. Es ist eine Berufung und nicht etwas, was man lernen kann“, stellte Raphael fest. „Marco eignet sich nicht dazu, im Zölibat zu leben.“
„Ja, das habe ich gemerkt. Was ist mit der Frau, mit der er zusammen war? Willst du nichts gegen sie unternehmen? Wir wissen doch gar nicht, was sie wirklich gemacht haben. An einem Malkurs im Haus eines Künstlers teilzunehmen ist schön und gut. Dabei kann sich alles Mögliche abspielen.“
„Das ist mir klar.“ Raphael fing an, sich zu ärgern. „Natürlich werde ich Miss Daniels nicht so einfach davonkommen lassen. Ich werde es ihr bestimmt nicht leicht machen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Sie wird wahrscheinlich damit rechnen, dass ich in der Galerie erscheine und sie zur Rede stelle. Doch genau das werde ich nicht tun. Die nächsten zwei Tage wird gar nichts geschehen, ich werde sie schmoren lassen. Sobald ich es für richtig halte, werde ich handeln.“
Lucia verzog das Gesicht. „Was willst du denn machen?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Raphael atmete tief ein und lehnte sich zurück. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, was Miss Daniels bezweckt. Da sie offenbar nicht daran interessiert ist, mit Marco zu schlafen, muss sie einen anderen Grund gehabt haben, mit ihm zu verschwinden.“
„Woher willst du denn wissen, dass sie … ihn nicht verführt hat?“ Lucias Stimme klang verächtlich.
„Genau weiß ich es natürlich nicht“, gab er zu. „Aber Marco verhält sich nicht so, als hätte er seine Unschuld verloren.“
„Raphael! Musst du dich immer so deutlich ausdrücken?“
Er seufzte. „Wir brauchen doch nichts zu beschönigen, Mutter. Marco wirkt seltsam bedrückt, so als wäre er enttäuscht.“
„Okay, das hört sich schon viel besser an.“ Lucia war etwas besänftigt. „Ich hoffe, du hast recht und diese Miss Daniels wird ihn zukünftig in Ruhe lassen.“
„Dafür gibt es keine Garantie“, räumte er resigniert ein. „Bis jetzt ist zwischen den beiden noch nichts passiert, mehr kann ich nicht sagen.“
„Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass vielleicht doch noch etwas passiert.“ Lucia war empört. „Der Junge ist wieder zu Hause. Was kann sie jetzt noch machen?“
„Das müssen wir herausfinden. Ich bin überzeugt, wir werden wieder von Miss Daniels hören, Mutter. Deshalb will ich ihr Zeit geben und abwarten. Angriff ist nicht immer die beste Verteidigung.“
Lucia musste sich schließlich eingestehen, dass Raphael recht hatte. Sie wollte ihm jedoch unbedingt noch erzählen, wie sie herausgefunden hatte, wo Marco sich aufhielt.
„Ich war in der Galerie, um mit der Schwester dieser Frau zu reden“, berichtete sie und merkte nicht, dass ihr Sohn sich versteifte. „Aber sie hat getan, als wäre sie ahnungslos. Nachdem sie sich beharrlich weigerte, mir etwas zu verraten, habe ich ihr einen halben Nervenzusammenbruch vorgespielt. Prompt hat sie mich in das kleine Büro geschickt, damit ich mich
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