JULIA FESTIVAL Band 98
ich es dir erklären soll, ohne rückgratlos und dumm zu klingen.“
„Ich halte dich für keins von beidem.“
Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. „Es ist nett von dir, das zu sagen. Aber wegzulaufen, wie du es nennst, hat mir bewiesen, dass ich beides viel zu lange war. Es ist wohl zur Gewohnheit geworden. Von Kind an wurde mir eingeredet, dass ich als Pfarrerstochter artiger als alle anderen sein müsse, damit mein Daddy stolz auf mich sein kann. Ich wollte niemanden enttäuschen. Also habe ich getan, was von mir erwartet wurde.“ Sie seufzte. „Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass mein Vater zu streng war. Er ist ein wundervoller, gütiger Mensch. Wir können alle von Glück sagen, dass wir ihn haben.“
„Du und die Kirchengemeinde?“
„Ja. Er hat mich nie angeschrien oder bestraft, aber ich konnte an seinen Augen sehen, wenn er meinetwegen unglücklich war. Also tat ich, was man mir sagte. Wie damals, als ich elf wurde und die Frauen in der Kirche meinten, ich dürfte keine Shorts mehr tragen. Also trug ich nur noch Kleider. Und als ich zur Highschool kam, warnten mich die Frauen vor der Gefahr, den falschen Weg einzuschlagen und in Verruf zu geraten. Also war ich immer sehr vorsichtig.“
„Und es ging so weit, dass du überhaupt nicht mehr ausgegangen bist.“
Sie nickte. Es regnete heftiger, und sie schaltete die Scheibenwischer ein. „Mein Vater hat immer gehofft, dass ich einen Pfarrer heirate. Ich wollte Lehrerin werden, aber jeder weiß, dass eine Pfarrersfrau Klavier spielen muss. Also habe ich stattdessen Musik studiert.“
„Aber du hast mir doch erzählt, dass du ein Examen in Erziehungswissenschaft abgelegt hast.“
„Das stimmt ja auch. Ich habe außer Musik heimlich auf Lehramt studiert.“
„Eine stille Rebellion?“
Sie nickte. „Die ich nie eingestanden habe. Ich bin nicht besonders stolz darauf. Ich hätte meinem Vater die Wahrheit sagen sollen.“
„Vielleicht hätte er dich nicht in die Lage bringen sollen, deinen Herzenswunsch verheimlichen zu müssen.“
So hatte sie es noch nie gesehen.
„Du und ich könnten nicht unterschiedlicher sein“, bemerkte Kevin. „Mir ist als Kind nie eine Vorschrift untergekommen, gegen die ich nicht verstoßen wollte.“
„Das klingt amüsant. Ich hätte es auch gern getan. Aber es jetzt nachzuholen, ist sehr schwer.“
„Du machst Fortschritte. Denk doch nur an dein Auto.“
„Das stimmt allerdings.“ Ihr Vater hätte das Auto nie gebilligt. Allan wäre sogar einen Schritt weitergegangen und hätte sie gezwungen, es zurückzugeben.
„Was hältst du davon?“ Kevin deutete zu einem kleinen Motel, das sich einen Parkplatz mit einem Steakhaus teilte. Trotz der frühen Stunde standen schon mehrere Autos vor dem Restaurant. Ein gutes Zeichen.
„Ist mir recht“, sagte sie und bog vom Highway ab.
Kevin humpelte ziemlich stark, als sie zur Rezeption gingen. „Willst du nicht doch eine Tablette nehmen?“, fragte sie.
„Nein. Ich bin nur steif vom langen Sitzen. Es wird gleich besser, wenn ich mich bewege.“
„Unnötig zu leiden bringt doch nichts.“
Er grinste. „Oh doch. Dadurch verhätschelst du mich. Wenn ich keine Schmerzen hätte, würdest du mich überhaupt nicht beachten.“
Sie wussten beide, dass es nicht stimmte, aber es gefiel ihr, dass er sie neckte, und daher widersprach sie nicht.
Als sie an das Empfangspult traten, erkundigte sich der Portier nach ihren Wünschen. Haleys Gedanken überschlugen sich. Am vergangenen Abend hatte sie sich nichts dabei gedacht, mit Kevin ein Zimmer zu teilen, denn durch seine Verletzung war er völlig groggy gewesen. Doch nun war er bereits wesentlich munterer. Aber was war, wenn er dennoch ihre Hilfe brauchte?
Bevor sie zu einem Entschluss kommen konnte, verkündete er: „Wir möchten gern zwei angrenzende Zimmer.“
„In Ordnung.“ Der Portier reichte jedem ein Meldeformular.
Während Haley ihres ausfüllte, versuchte sie zu ergründen, ob sie erleichtert oder enttäuscht war. Ein bisschen von beidem. Sie wollte zwar in einem Zimmer mit Kevin absteigen, aber sie fürchtete sich auch davor.
„Wie ist das Steak nebenan?“, erkundige sich Kevin, als er sein Formular ausgefüllt hatte.
„Das Beste im Umkreis von Meilen“, versicherte der Portier. „Sie sollten früh hingehen. Es braut sich ein böser Sturm zusammen. Könnte sogar ein Tornado werden.“
„Das ist besser als Kabelfernsehen.“ Kevin wandte sich an Haley. „Bist du
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