JULIA FESTIVAL EXTRA Band 06
abwenden, wenn sie mir auf der Straße begegnet, und wer könnte es ihr verdenken? Zweifellos würde sie am liebsten so tun, als gäbe es mich nicht … als hätte es mich nie gegeben. Und das zu Recht. Sie haben allen Grund, sich der Verwandtschaft mit mir zu schämen. Mit mir … ihrem Vater … Bruder … Sohn … Onkel … einem Dieb und Feigling.“
„Einem Dieb?“
Honor atmete insgeheim auf. Sie hatte etwas weitaus Schlimmeres befürchtet. Der Reichtum so mancher prominenten Familie gründete sich auf jahrhundertelangen Diebstahl. Ihre eigene war da keine Ausnahme.
„Wirklich, Honor“, hatte ihre Tante sie einst getadelt, als sie mal wieder die geschönte Chronik ihrer Familie in Zweifel gezogen hatte. „Dein Urgroßvater war einer der angesehensten Männer seiner Generation, und dein Großonkel war Lord-Lieutenant.“
„Ja, aber was ist mit unseren wirklichen Vorfahren? Denen, die gemordet und geraubt haben?“
„Das ist lange her. Damals haben alle so etwas getan“, hatte ihre Tante erwidert. „Ich verstehe dich wirklich nicht, Kind. Warum fängst du immer wieder davon an? Das tut man nicht.“
Was immer David getan hatte, Honor bezweifelte, dass es dem gleichkam, was ihre Vorfahren verbrochen hatten.
Der Wein war ausgetrunken, und Honor sah David an, dass er seine Offenheit bereute. In ein paar Minuten würde er ihr sagen, dass er es sich anders überlegt hatte und jetzt gehen müsste. Aber das wollte sie nicht. Nein, das wollte sie ganz und gar nicht.
Also stand sie auf und lächelte ihm aufmunternd zu. „Wenn Sie mit mir nach oben kommen, zeige ich Ihnen Ihr Zimmer. Morgen überlegen wir, welche Reparaturen als Erste gemacht werden müssen.“
Ein wenig schwerfällig erhob David sich. Er war kurz davor gewesen, sich von ihr zu verabschieden. Ihre Fragen nach seiner Familie hatten ihm klargemacht, wie riskant und leichtsinnig sein Verhalten war.
„Hier entlang“, forderte sie ihn auf und registrierte mit mildem Erstaunen, dass er ihr den Flur und die Treppe hinauf folgte.
Das Schlafzimmer, zu dem sie ihn führte, lag in einem Zwischengeschoss im hinteren Teil des Hauses.
„Es ist nicht so groß wie die Zimmer vorn, aber in einem davon schlafe ich, und das andere nehmen die Mädchen, wenn sie zu Besuch kommen“, erklärte sie, als sie das Licht einschaltete und zur Seite trat, um ihn hereinzulassen.
Der Raum war klein, das stimmte, aber verglichen mit den Behausungen, in denen David seit seiner Rückkehr übernachtet hatte, erschien er ihm geradezu luxuriös. Vor allem das Bett. Außerdem gab es einen Schrank und zwei Kommoden, die er gar nicht brauchte, denn er reiste mit leichtem Gepäck. Sein gesamter Besitz passte in den Rucksack und hätte nicht mal eine der beiden Kommoden gefüllt.
Am Fenster hingen Vorhänge, und auf dem Fußboden lag ein Teppich. Alles war alt und fadenscheinig, aber das störte ihn nicht. Das Zimmer verfügte über einen eigenen Kamin, und die Luft roch ein wenig feuchtkalt, doch auch das machte ihm nichts aus.
„Das Haus hat eine Zentralheizung“, sagte Honor, als hätte sie seine Gedanken erraten. „Ich weiß nur noch nicht, wie man sie in Gang setzt.“
„Und an welcher Stelle steht sie auf der Liste?“, fragte David trocken.
„Nun ja, weit vor der Hecke, aber nach dem Leck im Dach“, erwiderte Honor mit jenem belustigten Funkeln in den Augen, das so interessante Dinge mit seinen Gefühlen anstellte.
Als junger Mann waren David seine Sexualität und die Reaktion seines Körpers auf eine hübsche Frau selbstverständlich gewesen. Er hatte Tania – Tiggy – in den sechziger Jahren kennen und lieben gelernt, als die Gesellschaft den freizügigen Sex entdeckte.
Sie hatten geheiratet und zwei Kinder bekommen. Dann war ihre Ehe langsam schlechter und der Sex damit ein Ritual, eine Mühe, eine lästige Pflicht geworden. Und noch später ein Opfer, das er Tiggys Unsicherheiten und seinem eigenen Schuldgefühl darbrachte.
In Spanien und Jamaika hatte es Frauen gegeben. Frauen in mittleren Jahren, die ausgehungert und gierig gewesen waren. Nicht nur auf seinen Körper, sondern auch auf seine Seele. Er hatte ihnen allen widerstanden, und die Enthaltsamkeit war ihm wie eine Oase der Ruhe erschienen. Bisher war er froh darüber gewesen und hatte geglaubt, dass es ihm nichts ausmachte, körperlich und emotional gleichgültig geworden zu sein. Aber jetzt erstaunte es ihn zutiefst, wie heftig sein Körper auf diese Frau reagierte.
„Das Bad ist die
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