Julia Gold Band 47
merkte, dass Raschid aufatmete. „Steh auf“, flüsterte er ihr zu.
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr die aba geschickt abgestreift. Unter dem prüfenden Blick des Königs kam Polly sich wie eine zur Begutachtung vorgelegte Ware vor. Dann machte er eine Bemerkung, lachte leise und sprach eine ganze Weile. Polly sah, dass Raschids Gesicht sich rötete, und sie hielt es für angebracht, langsam wieder in die Knie zu gehen.
Was immer sein Vater zu ihm sagte, hatte eine seltsame Wirkung auf ihn. Raschid ballte die Hände zur Faust, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. König Reijas Äußerungen folgte ein langes Schweigen, währenddessen man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Unvermittelt antwortete Raschid in scharfem Ton. Polly war schockiert. Im nächsten Moment gerieten Vater und Sohn so heftig aneinander, dass es keines Dolmetschers bedurfte, um Polly erkennen zu lassen, was die Uhr geschlagen hatte. Zwischen den Ausbrüchen der beiden Männer entstanden immer längere Schweigepausen.
Jetzt lächelte Reija selbstzufrieden oder herausfordernd. Schließlich deutete Raschid eine Verbeugung an und verließ den Raum.
Der König gab Polly ein Zeichen, näher zu treten. „Ich bedaure diese wenig erfreuliche Einführung in unsere Familie“, sagte er in holprigem Englisch. Er bemerkte Pollys Überraschung und setzte vergnügt hinzu: „Ja, ich spreche deine Sprache. Es hat sich für mich jedoch häufig als nützlicher erwiesen zuzuhören, statt zu reden.“
Polly schaffte es, höflich zu lächeln. Gegen diesen schlauen Fuchs hatte ihr Vater keine Chance gehabt.
„Willkommen bei uns“, fuhr Reija fort. „Eine blonde Schönheit, wie du es bist, wird meinen Sohn sicher dazu bringen, häufiger nach Hause zu kommen.“
Polly hielt es nicht für angebracht, den König zu warnen, dass er sich da auf eine Enttäuschung gefasst machen musste. Raschid ließ sich die Flügel ebenso wenig beschneiden, wie ein Raubvogel auf seine Beute verzichtete. Es war jedoch interessant zu erfahren, dass Reija seinen Sohn hier gern öfter gesehen hätte als bisher. Die Unstimmigkeiten zwischen den beiden hatten also nicht zu einem echten Bruch geführt. Polly hätte zu gern gewusst, weshalb Vater und Sohn sich so verbissen gestritten hatten.
„Ein Mann trinkt kein Brackwasser, wenn ihn zu Hause ein frischer Trunk erwartet.“
Polly blinzelte, weil ihre Gedanken abgeschweift waren. Zum Glück schien der König keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort: „Ich hoffe, du betrachtest unser Land bald als dein Zuhause.“
„Ja“, erwiderte Polly folgsam.
„Das wird dir leichter fallen, wenn du Arabisch kannst.“ Reija nickte vor sich hin. „Du bekommst eine Lehrerin.“
Sie war König Reijas Geschenk an seinen Sohn, wenn dieser darüber auch nicht sehr glücklich war. Aber das würde dem König sicher keine schlaflosen Nächte bereiten. Im Gegenteil. Er schien sehr zufrieden mit sich zu sein …
„Geht es deinem Vater gut?“, hörte Polly den König fragen. „Ja, Eure Majestät.“
„Möge Allah ihm ein langes Leben in Gesundheit und Reichtum bescheren.“ Reija machte eine verabschiedende Handbewegung. „Du darfst dich jetzt zurückziehen, Polly. Die Frauen freuen sich schon darauf, dich auf die Hochzeit vorzubereiten.“
Als Polly auf den Gang hinaustrat, wartete Raschid dort mit finsterer Miene.
„Was hat er gesagt?“, fragte Raschid schroff.
„Er möchte, dass ich Arabisch lerne.“ Polly lächelte, um die Atmosphäre zu entspannen.
„Meinetwegen brauchst du das nicht zu tun. Mir liegt nichts daran“, betonte Raschid.
Polly fühlte sich zurückgewiesen, doch diesmal ließ sie sich ihre Verstimmung nicht anmerken. Ihr war klar geworden, dass sie sich den Tatsachen endlich stellen musste. Dieser arrogante, undurchschaubare Mann war ihr Ehemann. Und es war ihre Schuld, dass er sie so unfreundlich behandelte. Mit ihren törichten Bemerkungen über Annullierung und Scheidung hatte sie Raschids Geduld überfordert. Seine unverblümte Offenheit hatte sie in ihrem Stolz verletzt, dabei war sie mit Raschid ebenso schonungslos verfahren.
Atemlos versuchte Polly, sich Raschids schnellem Gang anzupassen. Er führte sie durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen. Der Palastkomplex bestand aus zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, von denen viele nach alter Tradition kreisförmig angeordnet waren. Die einzelnen Flügel wurden über Durchgänge oder Treppen miteinander verbunden.
Polly war
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