Julia Gold Band 47
hinzu: „Aber mit ihm kann ich es natürlich nicht aufnehmen.“
„Wetteifert ihr miteinander?“, versuchte Polly zu scherzen. Asif sah sie nicht an. „Als Junge hatte Raschid einen Falken. Drei Monate nahm er das Tier überallhin mit, bis es zahm war. Und es kümmerte ihn nicht, dass er dabei ganz schön zerkratzt wurde. Unser Vater war sehr stolz auf ihn. In seinen Augen hatte Raschid damit ein wahrhaft männliches Verhalten gezeigt. Ich hab’s noch nicht so weit gebracht. Aber Raschid kann man einfach nicht böse sein.“
Resignierend lächelnd wandte Asif sich Polly zu. „Für seine Familie und selbst für seinen unwürdigen Bruder wäre ihm kein Opfer zu groß.“
Als Polly nach oben zurückkehrte, kam sie an Raschids Arbeitszimmer vorbei und betrat es nach kurzem Zögern.
Der Raum wirkte eher wie eine Bibliothek, denn an den Wänden standen Regale vom Boden bis zur Decke, vollgestopft mit Büchern in verschiedenen Sprachen. Nachdenklich ließ Polly den Finger über den Rücken einer Gedichtbandreihe gleiten, eher sie sich genauer im Raum umsah. Bis auf die Telefone und den Computer wirkte seine Atmosphäre so mittelalterlich wie die übrigen Teile des Palastes. Nur die Bäder und der Küchenbereich waren modernisiert worden.
Polly dachte an Asifs und Chassas Flügel, der völlig neu gestaltet und mit erlesenen Designermöbeln und Teppichen eingerichtet war. Sie versuchte, sich Raschids Räume ähnlich ausgestattet vorzustellen.
Nachdenklich berührte sie die Lehne des Schreibtischstuhls. Raschid war ein faszinierender, aufregender Mann, und irgendwie konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr recht vorstellen.
Beim Frühstück las Polly Zeitung, weil Raschid sich wortkarg verhielt und die Post durchging. Wenig später verließen sie den Palast in einer klimatisierten Limousine und glitten über eine breite, von sorgfältig bewässerten jungen Bäumen gesäumte Straße. Polly fiel ein imposanter, fast fertiggestellter Bau auf, und sie erkundigte sich danach.
„Das wird ein zweites Krankenhaus, das bald eröffnet wird“, klärte Raschid sie auf.
„Ich würde es gern einmal besichtigen.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, versprach er.
Sie hatten den Kamm einer Anhöhe erreicht, von wo aus sie einen herrlichen Blick auf die Stadt Jumani hatten. Während der Fahrt durch die großzügigen Straßen blickte Polly neugierig aus dem Wagenfenster und nahm die Eindrücke außerordentlich interessiert auf.
Kühne Wolkenkratzer erhoben sich zwischen Moscheen und Minaretten, und fast überall sah sie gepflegte, blühende Anlagen. Auf den Gehsteigen herrschte reges Treiben. Im Vorbeigleiten erhaschte Polly immer wieder Blicke auf einladende Schaufensterauslagen.
„Wie findest du die Zivilisation außerhalb der Palastmauern?“, scherzte Raschid.
„So etwas hätte ich nicht erwartet. Ist das dort drüben ein Einkaufszentrum?“
„Davon gibt es hier in Jumani sogar mehrere.“ Raschids Lächeln war so strahlend und herzerwärmend, dass es Polly durch und durch ging.
Der Tag war abwechslungsreich und voller Überraschungen. Sie genoss den Bummel durch die Geschäfte und die ehrerbietige Aufmerksamkeit, die man ihnen entgegenbrachte. Sie lachte viel und war in Raschids Gesellschaft so gelöst wie nie zuvor.
Mittags aßen sie im Privatspeiseraum eines bekannten Luxushotels, weil es in Dharein undenkbar gewesen wäre, wenn ein Mann mit seiner Frau in einem öffentlichen Restaurant gegessen hätte. Während der Geschäftsführer und die Kellner um sie aufmerksam herumschwirrten, wünschte Polly sich insgeheim, Raschid würde sie noch einmal so verliebt anlächeln, wie auf der Fahrt durch die Stadt.
Kurz nach dem Abendessen im Palast erschien Medir, der Sekretär, und holte Raschid wegen eines wichtigen Anrufs ans Telefon. Polly blieb allein zurück und beschloss, einen Spaziergang durch die Palastgärten zu unternehmen. Im Schutz der hohen Mauern überragten Pfeffer- und Tamarindenbäume üppige Oleanderbüsche mit rosa Blüten, deren süßer Duft die Abendluft erfüllte.
Auf dem Rückweg war Polly so in Gedanken versunken, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als eine dunkle Gestalt sich ihr plötzlich in den Weg stellte.
„Du meine Güte!“ Polly sah Raschid anklagend an. „Hättest du dich nicht rechtzeitig bemerkbar machen können? Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte, ich sei hier draußen ganz allein.“
Raschid lächelte flüchtig. „Allein bist du
Weitere Kostenlose Bücher