Julia Gold Band 53
mich verletzen. Er – er wird mich entehren. Hilf mir, hier herauszufinden und zurück nach Marrakesch zu kommen.“
Abdul war einen Schritt zurückgewichen. „Khalil ist ein guter Mensch!“, rief er schockiert. „Er würde Sie nie verletzen! Sie beleidigen uns alle!“ Er verbeugte sich knapp und ging würdevoll davon. Nun gut, dann musste sie eben allein einen Weg aus dieser Festung finden und sich ganz auf ihr Glück verlassen.
Den Garten umgaben Dutzende von Türbögen und Filigranwände. Sie musste sich für eine der Türen entscheiden und betrat einen in kühles Dämmerlicht getauchten marmornen Empfangssaal. Von diesem aus führten Türbögen in weitere Räume, alle mit Fenstern belüftet, die mit verzierten Eisengittern verschlossen waren. Schon nach kurzer Zeit hatte Hannah in diesem Labyrinth völlig die Orientierung verloren. Jetzt kam sie zum dritten Mal in den Innengarten und beschloss, über eine der Treppen in das obere Stockwerk und von da aus auf das Flachdach zu gelangen, um sich von dort aus einen besseren Überblick zu verschaffen.
Mehrmals auf ihrem Irrweg begegnete sie Dienern, die sie höflich grüßten und keinerlei Anstalten machten, sie aufzuhalten. Oben auf der schwindelnden Höhe des Daches bot sich ihr ein atemberaubender Ausblick über die Landschaft auf zwei Storchennester und auf Khalil, der ein paar Hundert Meter entfernt mit lachenden Kindern herumtollte. Offensichtlich besaß er gar kein Gewissen, sonst hätte er nicht fröhlich mit den Kindern spielen können, während er wusste, dass sie völlig verängstigt auf ihn wartete. Sie schluchzte auf. Khalil war ein gewissenloser Schurke und würde sich mit Gewalt nehmen, was sie ihm einmal aus Liebe geschenkt hätte.
Verzweifelt suchte sie vom Dach aus alle Mauern nach einem möglichen Ausgang ab, musste jedoch bald erkennen, dass nur ein Weg aus der Festung führte: das große Eingangstor, jetzt bewacht von vier mit Gewehren bewaffneten Männern.
Mutlos geworden, lehnte sie sich gegen die Balustrade des Fachdaches.
„Hannah?“
Sie wirbelte herum, und als sie Khalils dunklen Kopf an der Treppe sah, suchte sie mit zitternden Händen nach Halt an der Mauer und wich so weit wie möglich zurück.
„Komm mir nicht näher!“
Zwei kleine Gestalten kamen die Treppe hochgerannt, zwängten sich an Khalil vorbei und liefen auf sie zu. Die beiden kleinen Jungen sahen die Angst in ihrem Gesicht und blieben stehen. Mit großen, ernsten Augen starrten sie Hannah an.
„Du beleidigst meine Familie, mein Haus und meinen Namen, aber wage es nicht, dich gegen die Begrüßung meiner Neffen zu wehren“, klang Khalils Stimme drohend zu ihr herüber.
Völlig verblüfft starrte sie ihn an.
„Guten Tag, Miss Jordan“, hörte sie die beiden Jungen im Chor sagen. Einer von ihnen bemerkte, wie zerknittert sein Kittelhemd war, strich es glatt und zog es ordentlich über seine Baumwollhose. Dann schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln.
Bei allem Schrecken der Situation war sie von den beiden bezaubert. „Guten Tag, meine Herren“, brachte sie hervor.
Umringt von fröhlich lachenden und rangelnden Kindern, stieg Khalil die letzten Stufen hoch. Sie alle begrüßten Hannah auf die gleiche freundliche und höfliche Art, während ihr stolzer Onkel sie einzeln mit Namen vorstellte. Liebevoll schaute er zu ihnen hinunter, und auch sie schienen sehr an ihm zu hängen. Schmerz durchfuhr sie bei dem Gedanken, dass diese zärtliche, liebevolle Seite seines Wesens ihr verweigert wurde, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie drehte sich schnell um und schaute traurig über das weite Tal.
„Hannah?“
Langsam wandte sie den Kopf. Er schaute sie mit gerunzelter Stirn an, während seine Hand mit den langen schwarzen Locken einer seiner kleinen Nichten spielte.
„Bewunderst du die Storchennester oder die Aussicht?“, fragte er nach langem Schweigen.
„Vielleicht dachte ich daran, hier herunterzuspringen“, antwortete sie mit gleichmütiger Stimme.
Er sagte etwas zu den Kindern, die erstaunt zu ihm aufschauten, aber gehorsam verschwanden.
„Du hast hier große Macht, nicht wahr?“, fragte sie ihn.
„Ich herrsche über diese Gegend.“
„Mein Gott! Ist das hier eine Diktatur im Kleinformat?“, wiederholte sie ungläubig lächelnd. Insgeheim wurde ihre Angst immer größer.
„Mehrere Dörfer und Familien schließen sich zu Verbänden zusammen mit jeweils einem Oberhaupt. In dieser Gegend hier bekleide ich dieses Amt. Es ist eine sehr
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