Julia Quinn
Folgen zu leiden hätte.
James hatte den Morgen damit verbracht,
über die Ländereien zu reiten. Er kannte sie natürlich in- und auswendig; als Kind hatte er hier mehr Zeit
verbracht als in Riverdale Castle. Aber wenn er seine Tarnung als Verwalter
nicht gefährden wollte, musste er natürlich den Besitz inspizieren.
Es war ein sehr heißer Tag, und als
James nach drei Stunden fertig war, klebte ihm das Leinenhemd am Körper. Ein
Bad wäre jetzt genau das Richtige gewesen, aber als Verwalter durfte er das
Personal von Danbury House nicht beanspruchen und um Wasser für den Zuber
bitten. Er würde mit einem Waschlappen und dem Bottich mit kaltem Wasser
vorlieb nehmen, den er in seinem Schlafzimmer hatte stehen lassen.
Er hatte nicht damit gerechnet,
seine Haustür weit offen stehen zu sehen. Fast lautlos schlich er zur Tür, und
als er vorsichtig ins Zimmer spähte, sah er den Rücken einer Frau. Dem
hellblonden Haar und der zierlichen Figur nach zu urteilen, schien es sich um
Tante Agathas Gesellschaftsdame zu handeln.
Schon am Vortag hatte sie ihn
fasziniert, doch wie sehr, das merkte er erst jetzt, als er sie über seine
Essays von Francis Bacon gebeugt sah. Francis Bacon? Für ein einfaches
Mädchen vom Lande, das sich zudem gerade als Einbrecherin betätigte, ein
ziemlich anspruchsvoller Literaturgeschmack. Wie gebannt beobachtete er sie.
Sie hielt ihm ihr Profil zugewandt, und während sie nun das Buch betrachtete,
rümpfte sie auf höchst erheiternde Weise die Nase. Seidige Strähnen ihres
flachsblonden Haars hatten sich aus dem Knoten gelöst und ringelten sich über
ihren Nacken. Ihre Haut sah warm und weich aus.
James hielt den Atem an und
versuchte, die Wärme zu ignorieren, die in ihm aufstieg. So weit wie möglich
beugte er sich vor. Was, zum Teufel, sagte sie nur? Er zwang sich, sich auf
ihre Stimme zu konzentrieren, was ihm nicht leicht fiel, da sein Blick immer
wieder abschweifte zu ihrem Busen und zu ihrem zarten Nacken, wo ... Er kniff
sich in den Arm. Schmerz war immer noch ein wirkungsvolles Gegenmittel in
solchen Fällen.
Miss Hotchkiss murmelte etwas, und
sie hörte sich ziemlich verärgert an. »... dumm ...«
Dem stimmte er aus vollem Herzen zu.
Sich am helllichten Tag in sein Zimmer zu schleichen war kein besonders kluger Einfall von ihr.
»...Mrs. Seeton ...«
Wer, bitte, war denn das?
»Au!«
James sah genauer hin. Sie wedelte
mit der Hand und warf seiner Messinglampe einen bösen Blick zu. Und sie stieß
kleine, leise Schmerzenslaute aus, die seltsame Empfindungen in ihm
auslösten. Seine spontane erste Regung war, ihr zu Hilfe zu eilen. Trotz seiner
Verkleidung war er schließlich nach wie vor ein Gentleman. Doch er zögerte. So
große Schmerzen hatte sie nun auch wieder nicht, und was hatte sie überhaupt in
seinem Haus zu suchen?
Ob sie womöglich die Erpresserin
war? Und selbst wenn wie hätte sie wissen können, dass er
hier war, um Nachforschungen in der Sache anzustellen? Doch wenn sie ihm
nicht auf die Schliche gekommen war, warum stöberte sie dann in seinen Sachen?
Brave Mädchen – von der Art, die gern alten Damen als Gesellschafterin zur Seite
standen – taten so etwas nicht.
Natürlich konnte sie auch nur eine
ganz gewöhnliche kleine Diebin sein, die hoffte, der neue Verwalter könnte ein
glückloser Gentleman sein, der noch ein paar Familienerbstücke in seinem
Besitz hatte. Eine Taschenuhr, ein Schmuckstück seiner Mutter, kurz,
irgendetwas, von dem ein Mann sich nicht trennen wollte, auch wenn seine Vermögensverhältnisse ihn dazu zwangen, sich Arbeit zu suchen.
Sie schloss die Augen. »Ich bin
wirklich ein Tollpatsch«, flüsterte sie.
Er steckte den Kopf noch weiter
durch die Tür, um sie besser verstehen zu können.
Ein Knirschen.
Verdammt. So schnell er konnte wich
er zurück und presste sich mit dem Rücken an die Hausmauer neben der Tür. So
unvorsichtig war er schon seit Jahren nicht mehr gewesen.
»Ist da jemand?« hörte er sie
rufen.
Er konnte sie nicht mehr sehen, dazu
war er mittlerweile zu weit von der Tür entfernt. Aber ihre Stimme klang panikerfüllt, und bestimmt kam sie jeden Moment aus dem Haus geeilt. Er rannte
davon und versteckte sich blitzschnell zwischen den Stallungen und
seinem Haus. Sobald er die Gesellschafterin von Tante Agatha herauskommen
horte, würde er hervortreten und so tun, als sei er eben erst auf der
Bildfläche erschienen.
Wenige Sekunden später vernahm er,
wie seine Haustür ins Schloss fiel. Schritte
Weitere Kostenlose Bücher