Julia Quinn
ihren Duft, ihren weichen Körper in all seiner Pracht
ausgekostet.
Er hätte sie leidenschaftlich geküsst, und dann hätte er sie
berührt. Überall.
Er hätte sie angefleht. Er hätte sie angefleht zu bleiben, seine
Leidenschaft willkommen zu heißen, hätte sie angefleht, ihn in sich
aufzunehmen.
Er begehrte sie. Nichts hätte ihm einen größeren Schrecken
einjagen können.
Das hier war Honoria. Er hatte geschworen, sie zu beschützen.
Und stattdessen ...
Er löste seine Lippen von den ihren, konnte sich aber noch nicht
von ihr losreißen. Er legte seine Stirn an ihre, genoss eine letzte Berührung
und flüsterte: »Verzeih mir.«
Da ging sie. Sie konnte das Zimmer gar nicht schnell genug
verlassen. Er sah ihr nach, sah, dass ihre Hände zitterten, ihre Lippen bebten.
Er war ein Monster. Sie hatte ihm das Leben gerettet, und er
dankte ihr das auf diese Weise?
»Honorig«, wisperte er. Er legte die Finger auf die Lippen,
als könnte er sie irgendwie dort spüren.
Und er spürte sie. Es war einfach
unglaublich.
Er spürte ihren Kuss immer noch, spürte immer noch das Prickeln
dieser leichten Berührung.
Sie war immer noch bei ihm.
Und er hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie immer bei ihm sein
würde.
14. Kapitel
Zum Glück brauchte Honoria den nächsten Tag nicht damit zu
verbringen, sich wegen des flüchtigen Kusses mit Marcus zu grämen.
Stattdessen schlief sie.
Von Marcus' Schlafzimmer zu ihrem war es nicht weit, und so
konzentrierte sie sich auf die anstehende Aufgabe – das hieß, einen Fuß vor den
anderen zu setzen und sich so lange aufrecht zu halten, bis sie in ihrem
Schlafzimmer angekommen war. Und sobald sie dort war, legte sie sich aufs Bett
und stand vierundzwanzig Stunden lang nicht mehr auf.
Falls sie dabei träumte, erinnerte sie sich
nicht daran.
Als sie schließlich erwachte, war es Morgen, und sie trug immer
noch dasselbe Kleid, das sie – wie viele Tage war das jetzt her? – in London
angezogen hatte. Ein Bad schien angemessen, frische Kleidung und danach natürlich
ein Frühstück, wo sie fröhlich darauf bestand, dass Mrs Wetherby sich zu ihr an
den Tisch setzte und über alle möglichen Dinge mit ihr plauderte, die nichts
mit Marcus zu tun hatten.
Die Eier waren äußerst interessant, ebenso der
Speck, und die Hortensien draußen vor dem Fenster waren absolut faszinierend.
Hortensien. Wer hätte das gedacht?
Alles in allem ging sie nicht nur Marcus aus
dem Weg, sondern auch jedem Gedanken an ihn, bis Mrs Wetherby fragte: »Haben
Sie heute Morgen schon bei Seiner Lordschaft vorbeigeschaut?«
Honoria hielt inne, das geröstete Brötchen auf halbem Weg zum
Mund. »Ähm, noch nicht.« Von dem heißen Brötchen tropfte Butter auf ihre
Hand. Sie legte es hin und wischte sich die Finger ab.
Und dann sagte Mrs Wetherby: »Bestimmt würde er sich sehr freuen,
Sie zu sehen.«
Was bedeutete, dass Honoria zu ihm gehen
musste. Nach all der Zeit und Mühe, die sie auf ihn verwendet hatte, als er
krank darniederlag, hätte es nun sehr merkwürdig ausgesehen, wenn sie abgewinkt
und gesagt hätte: »Ach, dem geht es bestimmt gut.«
Der Weg vom Frühstückszimmer zu Marcus' Schlafzimmer dauerte
ungefähr drei Minuten, was ungefähr drei Minuten länger war, als sie über
einen Kuss nachdenken wollte, der etwa drei Sekunden gedauert hatte.
Sie hatte den besten Freund ihres Bruders geküsst. Sie hatte Marcus geküsst ... der inzwischen wohl auch einer ihrer besten Freunde war.
Und das ließ sie fast genauso sehr stutzen wie der Kuss selbst.
Wie war das passiert? Marcus war eigentlich immer Daniels Freund gewesen, nicht
ihrer. Oder anders ausgedrückt, in erster Linie Daniels Freund, erst in
zweiter Linie ihrer. Was nicht heißen sollte ...
Sie hielt inne. Ihr wurde schon ganz
schwindelig.
Ach, zum Kuckuck. Er hatte vermutlich keinen Gedanken darauf
verschwendet. Vielleicht war er sogar noch ein wenig im Delirium gewesen.
Vielleicht erinnerte er sich nicht einmal.
Und konnte man das wirklich einen Kuss nennen? Das Ganze hatte nur
ganz, ganz kurz gewährt. Und hatte es nicht etwas zu bedeuten, wenn der
Küssende (er) der zu Küssenden (ihr) furchtbar dankbar war, vielleicht sogar
das Gefühl hatte, auf ganz elementare Weise tief in ihrer Schuld zu stehen?
Sie hatte ihm schließlich das Leben gerettet. Da war ein Kuss
nicht ganz unangebracht.
Außerdem hatte er gesagt: »Verzeih mir.« Zählte es noch als
Kuss, wenn der Küssende um Verzeihung bat?
Eher nicht, fand
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