Julia Quinn
abgenommen, sich an die Anweisungen des Arztes zu halten.
»Wir haben Ihnen nicht das Leben gerettet, nur damit Sie es durch
Unvernunft verplempern«, sagte sie streng.
Es würde also beinahe einen Monat dauern, ehe er ihnen nach London
folgen konnte. Unerklärlicherweise fand er das frustrierend.
»Ist Honoria in der Nähe?«, fragte er Lady Winstead, auch
wenn er wusste, dass es sich nicht schickte, wenn man sich bei der Mutter nach
einer unverheirateten Tochter erkundigte. Das galt selbst für seine beiden
Gäste. Aber er langweilte sich so. Und er vermisste ihre Gesellschaft.
Was keineswegs dasselbe war, wie sie zu
vermissen.
»Wir haben vorhin Tee getrunken«, sagte Lady Winstead. »Sie
hat gesagt, dass sie heute Morgen bei Ihnen vorbeigeschaut hätte. Ich glaube,
Sie will Ihnen ein paar Bücher aus Ihrer Bibliothek zusammenstellen. Ich
könnte mir vorstellen, dass sie sie Ihnen heute Abend vorbeibringt.«
»Das wäre schön. Ich bin fast fertig mit ...« Er sah zum
Nachttisch. Was hatte er eigentlich gelesen? »Philosophische Untersuchungen
über das Wesen der menschlichen Freiheit.«
Sie hob die Brauen. »Gefällt es Ihnen?«
»Nicht besonders, nein.«
»Dann richte ich Honoria aus, dass sie sich mit den Büchern
beeilen soll«, sagte sie mit amüsiertem Lächeln.
»Ich freue mich schon darauf«, erwiderte er. Er begann ebenfalls
zu lächeln, fing sich dann aber wieder und zeigte eine ernstere Miene.
»Honoria bestimmt auch«, versetzte Lady
Winstead.
Da war Marcus sich keineswegs sicher. Trotzdem, wenn Honoria den
Kuss nicht erwähnte, würde er es auch nicht tun. Es war doch nur eine flüchtige
Geste gewesen. Nichts anderes wäre überhaupt denkbar. Eine Geste, die man
leicht wieder vergaß. Sie würden im Handumdrehen zu ihrer alten Freundschaft zurückfinden.
»Ich glaube, sie ist noch immer ziemlich
erschöpft«, fuhr Lady Winstead fort, »obwohl ich mir gar nicht vorstellen
kann, warum. Sie hat vierundzwanzig Stunden geschlafen, wussten Sie das?«
Er hatte es nicht gewusst.
»Sie hat Sie erst verlassen, als das Fieber gesunken war. Ich habe
ihr angeboten, sie abzulösen, aber davon wollte sie nichts wissen.«
»Ich stehe tief in ihrer Schuld«, sagte Marcus leise. »Und in
Ihrer ebenfalls, wie ich gehört habe.«
Einen Augenblick schwieg sie. Aber dann öffnete sie die Lippen,
als hätte sie sich entschieden, etwas zu sagen. Marcus wartete ab; er wusste,
dass Schweigen oft die beste Ermutigung war. Und tatsächlich, nach einer Weile
räusperte sich Lady Winstead und sagte: »Wenn Honoria nicht darauf bestanden
hätte, wären wir nicht nach Fensmore gekommen.«
Er wusste nicht recht, was er darauf sagen
sollte.
»Ich habe ihr gesagt, dass wir nicht herfahren sollen, das würde
sich nicht schicken, schließlich sind wir nicht miteinander verwandt.«
»Ich habe keine Familie«, flüsterte er.
»Ja, das hat Honoria auch gesagt.«
Er verspürte einen merkwürdigen Stich, als er das hörte. Natürlich
wusste Honoria, dass er keine Familie hatte, das wusste jeder. Aber es sie
sagen zu hören beziehungsweise von jemand anderem zu hören, dass sie es gesagt
hatte ...
Es tat weh.
Ein bisschen. Und er verstand nicht, warum.
Honoria hatte alles durchschaut, hatte hinter sein Alleinsein und
in seine Einsamkeit geblickt. Sie hatte es – nein, ihn – auf eine Weise
erkannt, wie er nie zuvor erkannt worden war. Nicht einmal von ihm selbst.
Ihm war einfach nicht klar gewesen, wie einsam er war,
bevor sie wieder in sein Leben hineinstolperte.
»Sie hat darauf bestanden«, sagte Lady Winstead noch einmal.
Und dann fügte sie hinzu, so leise, dass er sie kaum hörte: »Ich fand, Sie
sollten das wissen.«
15. Kapitel
Als Honoria ein paar Stunden später bei ihm vorbeischaute, saß Marcus im Bett und tat nicht einmal so,
als läse er Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen
Freiheit. Sie hatte etwa ein halbes Dutzend Bücher auf den Armen. Begleitet
wurde sie von einem Dienstmädchen, das ein Essenstablett trug.
Es überraschte ihn nicht, dass sie abgewartet hatte, bis noch
jemand zu ihm ins Zimmer kommen musste.
»Ich bringe dir ein paar Bücher«, sagte sie betont forsch. Sie
wartete, bis das Dienstmädchen das Tablett auf dem Bett abgestellt hatte, und
lud dann den Bücherstapel auf dem Nachttischchen ab. »Mutter hat gesagt, dass
du wahrscheinlich Unterhaltung gebrauchen kannst.« Sie lächelte zwar,
doch ihre Miene war viel zu entschlossen, um echt zu wirken. Sie
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