Julia Saison Band 11
juristischen Fakultät einer renommierten Ostküsten-Universität seinen Abschluss gemacht hatte, war nirgendwo ein Diplom zu sehen. Vermutlich hängt es in seinem Büro, dachte Margaret. Es überraschte sie nicht weiter, denn in Jackson Hole ließ sich die Mehrzahl seiner Klienten mehr von seinem Rodeohintergrund beeindrucken als von seiner exzellenten Ausbildung.
Margaret kannte den jungen Anwalt und früheren Meister im Bullenreiten gut. Er war ihr Mitschüler an der Jackson Hole Highschool gewesen und zudem ein guter Kumpel von Cole Lassiter, ihrem Freund. Nein, nicht Freund, korrigierte sie sich still. Cole war einfach nur der Idiot, der so getan hatte, als würde er sie lieben, mit ihr geschlafen und sie dann fallen gelassen hatte.
Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Eigentlich dachte sie, dass sie sich auf der Beerdigung begegnen würden. Schließlich waren er und Joy in ihrer Jugend Nachbarn gewesen, und er besuchte sie und ihren Mann Ty immer, wenn er in der Stadt war. Aber Cole war auch nicht zur Beerdigung ihrer Eltern gekommen, darum überraschte es sie nicht, als er nicht auftauchte. Respekt schien für ihn ein Fremdwort zu sein.
„Charlie, möchtest du damit spielen?“ Lexi Delacourt, die Sozialarbeiterin, die rechts neben Margaret saß, öffnete eine große, bunte Tasche und ließ das Kind, das sie begleitete, hineinschauen.
Margaret lächelte, als der Junge mit glänzenden Augen hineinsah, und schob die alten Erinnerungen beiseite. Cole war Vergangenheit, heute ging es um ihre Zukunft. Genau wie damals, als sie an ihrem 17. Geburtstag in einem Anwaltsbüro gesessen hatte. Ihre sieben Geschwister waren bei ihr gewesen, und sie alle hatten Angst gehabt, was nach dem Tod ihrer Eltern mit ihnen passieren würde. Ob sich Charlie genauso unwohl fühlte wie sie damals?
Sie beobachtete den kleinen Jungen, der gerade Plastikdinosaurier auf dem niedrigen Holztisch aufstellte. Der Sechsjährige war der Sohn von Margarets Jugendfreundin Joy und deren Ehemann Ty.
Jetzt waren beide nicht mehr da. Ein Unfall nur wenige Wochen vor Weihnachten hatte sie aus dem Leben gerissen – und das ausgerechnet auf dem gleichen Fahrbahnabschnitt, auf dem schon ihre eigenen Eltern umgekommen waren.
Es ist nicht fair.
Tränen brannten in Margarets Augen. Obwohl sie ihre Freundin nicht so oft gesehen hatte, wie es ihr lieb gewesen wäre, seit sie Wyoming vor 15 Jahren verlassen hatte, waren sie dank Internet und Handy in engem Kontakt geblieben.
Ohne Vorwarnung sprang Charlie von der braun-weiß gemusterten Couch auf. Als Lexi ihn fragend ansah, verkündete er: „Ich gucke mir die Fische an.“
Er sah bezaubernd aus, wie er in seinem blauen Jeanshemd, Jeans und kleinen Cowboystiefeln durch den Raum lief.
Joy war ganz in ihrer Mutterrolle aufgegangen, und Ty war vollkommen vernarrt gewesen in seinen Sohn. Beide hatten sich weitere Kinder gewünscht, aber aus irgendeinem Grund war Joy nicht noch einmal schwanger geworden. Seit Charlies zweitem Geburtstag hatten sie es vergeblich versucht und im letzten Jahr mit teuren Behandlungen begonnen, die ihre Fruchtbarkeit steigern sollten.
Margaret konnte verstehen, warum ihre Freunde mehr Kinder wollten. Als sie letztes Weihnachten zur Taufe der Zwillinge ihres Bruders nach Jackson Hole zurückgekommen war, war sie ebenfalls Charlies Zauber verfallen. Sie hatte sich für Travis gefreut, ihn aber gleichzeitig darum beneidet, wie glücklich sein Leben verlief. Während ihres Besuchs hatte sie auch Zeit mit Joy und ihrer Familie verbracht.
Als sie wieder fahren musste, hatte Charlie sie umarmt und ihr einen Kuss gegeben. Da hatte Margaret ihre Freundin geneckt, sie würde ihn mitnehmen. Aber wie immer hatte sie Wyoming allein verlassen.
„Sie sind riesig.“ Charlie wirbelte herum und sah sie mit großen Augen an.
„Wirklich groß“, stimmte Margaret ihm zu und seufzte, als er sich wieder dem Aquarium zuwandte. Sie hatte immer gehofft, einen liebevollen Ehemann zu haben und ein Kind wie Charlie, das sie verwöhnen konnte. Aber sie war bereits Anfang dreißig, und mit jedem Jahr, das verging, rückte ihr Traum in weitere Ferne.
Als Physiotherapeutin, die hauptsächlich mit Schlaganfallpatienten arbeitete, lernte sie bei der Arbeit kaum passende Männer kennen, außerdem ging sie selten aus. Wäre sie bereit gewesen, einen Mann zu heiraten, den sie mochte und respektierte, aber in den sie nicht verliebt war, wäre sie jetzt verheiratet.
Aber nach reiflicher
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