Julia Saison Band 11
ihrer Geschichte trotz aller logischen Erklärungen nichts Positives abgewinnen würde. „Entschuldige. Ich weiß, das sieht nicht gerade professionell aus, aber heute Morgen war einfach keine Zeit zum Föhnen. Also … Nikki ist anscheinend nicht gekommen. Hat sie angerufen und sich abgemeldet?“
„Nein. Ich schätze, zumindest heute Vormittag wird sie sich nicht blicken lassen. Schon gar nicht, wenn sie Gesellschaft hat. Apropos, deine Gesellschaft erstaunt mich.“ Alvie hatte ihre Kochschürze bereits angelegt, ging nun zum Kühlschrank und holte Eier, Frühstückswürstchen, Speck und eine Platte mit einem halben Räucherschinken heraus.
Merritt, die sich gerade ihre schwarze Schürze vorband, hielt mitten in der Bewegung inne und sah zu, wie Alvie alles auf der Arbeitsplatte neben dem Grill bereitstellte. „Ich finde, das habe ich nicht verdient, Alvie, zumal ich es Cain verdanke, dass ich überhaupt hier bin. Und du hast sicher sein Aussehen bemerkt. Er hätte es verdient, im Bett zu liegen. Um ein Haar wäre er ums Leben gekommen.“
„Motte, du liebe Zeit, heißt das, er hat sich geprügelt? Nachdem du dich so lange als stilles, braves Mädchen erwiesen hast, willst du deinen Ruf solch einem Mann opfern?“
Bisher hatte Merritt noch nie Alvies Kritik oder Zorn zu spüren bekommen und konnte es sich auch nicht vorstellen. Zwar verließ sie langsam der Mut, doch sie hoffte, die Frau, die ihr Hoffnung und die Chance auf ein neues Leben gegeben hatte, würde ihr zuhören.
„Er wurde verletzt, als das Dach von deiner Scheune auf ihn stürzte“, setzte sie an.
Alvies Schreck ging in Schuldbewusstsein über, allerdings nur sekundenlang. „Ha. Geschieht ihm recht, wenn er sich dort eingeschlichen hatte.“
„Er hat nicht …“ Merritt holte tief Luft. „Er hat sich nicht eingeschlichen. Ich habe ihm erlaubt, den Pick-up dort unterzustellen, als er mich nach Hause gefahren hatte. Er musste doch irgendwo schlafen.“
Alvie witterte eine Verschwörung. „Wie bitte? Er hat dir gestern Abend aufgelauert? Hört sich an, als wäre er ein Stalker! Und ich habe ihn auch noch in Schutz genommen.“
„Und zwar zu Recht, Alvie. Er hat aus Rücksichtnahme in der Stadt gewartet. Glaubst du, es macht ihm Spaß, von allen angeglotzt zu werden? Er hätte zum Haus fahren und dort auf mich warten können. Aber nein, er war in Sorge um mich und wollte mich nicht in dem Unwetter zu Fuß nach Hause gehen lassen. Das hat kein anderer getan.“
Alvie war sich offenbar bewusst, dass Merritt auf Leroy anspielte und regte sich noch mehr auf. Ihre Brust hob und senkte sich, sie suchte nach einer gepfefferten Antwort. Als ihr keine einfiel, schimpfte sie: „Du bist weich wie Butter.“
In dem Wissen, diese Runde mit Vernunft gewonnen zu haben, gab Merritt sich großzügig. „Du hättest das Gleiche getan.“
„Ich bin keine Frau von Mitte zwanzig mit der Lebenserfahrung einer Sechzehnjährigen.“
Alvies Unfähigkeit, ihr Friedensangebot anzunehmen, schmerzte genauso wie das Bild, das sie von Merritt zeichnete. „Das Dach ist eingestürzt“, wiederholte Merritt mit stiller Würde. „Du bist böse auf mich. Das habe ich verstanden. Aber was hätte ich denn tun sollen, als ich das Krachen hörte? Es ignorieren?“
Merritt vergaß völlig die Tasche auszupacken und die Brotkörbe vorzubereiten. Sie vergaß sogar, dass Cain auf seinen Kaffee wartete und seine Bestellung aufgeben wollte. „Glaub mir, Alvie, als ich die verklemmte Tür endlich offen bekam, dachte ich, Cain wäre tot. Der Pick-up war völlig unter Schutt begraben, unter Schnee, Balken, allem Möglichen. Geh nach draußen und schau dir den Wagen mal näher an. Cain hat ihn in stundenlanger Arbeit hergerichtet und ums Haus herum Schnee geräumt, um mir den Weg zu erleichtern. Aber die Frontscheibe ist weg und die Beifahrertür lässt sich nicht öffnen. Und sein Stirnverband? Darunter verbirgt sich eine Platzwunde, die mit mindestens zwölf Stichen hätte genäht werden müssen. Vielleicht sogar mit zwanzig.“
Alvie, mittlerweile in der Defensive, stemmte die Hände in die Hüften. „Warum hat er sie nicht nähen lassen?“
„Wie denn? Wir konnten den Notarzt nicht rufen. Er hätte höchstens im Schneesturm zur Polizeiwache gehen können, aber ich glaube kaum, dass er es geschafft hätte. Ich hatte große Angst, dass er eine Gehirnerschütterung haben oder verbluten könnte.“
Doch Alvie kniff lediglich die Augen zusammen. „Da hast du ihn
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