Julia Saison Band 17
ihnen nie angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen, wie es hier üblich war. Im Geiste spielte er durch, wie es wäre, dem jungen Mann das Du anzubieten. Die paar Worte auszusprechen, sollte ihm wohl kaum schwerfallen. Andererseits könnten sie etwas nach sich ziehen, was er mied: Bekannte zu haben. Vielleicht sogar Freunde. Heute bot man jemandem das Du an, und nächste Woche fragte er einen, ob man ihm beim Umzug half.
Alex wusste, dass Georgia auch diese Einstellung gemeint hatte, als sie ihm vorgeworfen hatte, niemanden an sich heranzulassen. Die meisten Leute akzeptierten es, wenn jemand auf Distanz blieb. Georgia nicht. Sie hatte die Distanz zwischen ihnen überwunden, ging ihm unter die Haut. Genaues gesagt zwischen die Rippen, in den Brustkorb, dahin, wo sein Herz saß.
Er war nicht darauf vorbereitet, es als Last zu empfinden, seine Freizeit wieder ganz für sich zu haben. Casey gegenüber hatte er sich ausführlich über Georgias Kurse beschwert. Darüber, wie viel Zeit sie beanspruchten. Und jetzt, wo er nicht mehr daran teilnehmen musste, vermisste er sie plötzlich. Als ob ein Teil von ihm selbst fehlen würde.
„Danke, Roger“, sagte Alex, als der junge Mann ihn an der Kletterwand sicherte. Na also, er hatte den Vornamen über die Lippen gebracht. Allerdings bot er Roger immer noch nicht an, ihn ebenfalls beim Vornamen zu nennen.
Um nicht länger über sein Sozialverhalten nachzudenken, begann er zu klettern. Nicht auf der linken Seite, wo sich die Anfänger abmühten, sondern auf der anspruchsvolleren rechten Seite. Je mehr er sich anstrengen musste, desto weniger Risiko bestand, dass seine Gedanken in unliebsame Richtungen abschweiften. Am besten tat es richtig weh, damit alles andere in den Hintergrund trat.
Die Taktik ging auf, jedenfalls sechs Minuten lang. Dann fielen ihm wieder Georgias Abschiedsworte ein: So ziehst du es doch vor, oder? Ein Leben zu leben, das ebenso leer ist wie dein Haus.
Nein, eigentlich stimmte das nicht. Er mochte es ruhig, berechenbar und ohne Krisen. Die Leere hatte er nicht bewusst gewählt, sie hatte sich ergeben. Wenn man so hart arbeitete wie er, blieb zwangsläufig wenig Raum für andere Dinge.
Georgia hielt das für eine Ausrede. Darum hatte sie ihn ja auch gefragt, was er aus seinem Leben machen wollte. Wäre er nicht ausgewichen, hätte sie ihm zugeredet, seine Idee zu verwirklichen. Allerdings wäre es dafür hilfreich gewesen, eine Idee zu haben , und genau da lag sein Problem. Er wusste nicht, was genau er tun wollte. Nur, dass sein derzeitiger Job ihn nicht ausfüllte.
Er rutschte mit der rechten Hand ab und prallte heftig gegen die Kletterwand. Plötzlich dämmerte ihm, warum er die Kurse so vermisste: Sie hatten Spaß gemacht. Die Atmosphäre einzufangen, die Geschichten der Teilnehmer zu hören … Er war so kreativ gewesen wie seit etlichen Jahren nicht mehr.
Früher, noch vor der Sache mit Lara, hatte er leidenschaftlich gern Radiobeiträge produziert. Davon war er inzwischen Lichtjahre entfernt. Seinen Reichtum und den hohen Bekanntheitsgrad in der Branche verdankte er einem anderen Job, nämlich dem des Managers. Die Leere in seinem Leben auch.
Alex versuchte, nicht an sein Haus zu denken, denn wenn er das tat, sah er es stets voller Farbe und Leben. Und immer war Georgia da.
Irgendwie hatte sie es geschafft, sich in seinem Kopf einzunisten. Sie hatte sich in seinen Gedanken verankert und gedieh prächtig, wie die Farne in ihrer Wohnung und in ihrem winzigen Hinterhof. Es fiel Alex schwer, seine triste Wirklichkeit nicht mit den Bildern in seiner Fantasie zu vergleichen. Denn dann …
„Verdammt“, murrte ein Mann links von ihm.
Der Fluch riss Alex aus seinen Überlegungen. Er suchte sich einen neuen Halt, während er sich fragte, wie lange er wohl regungslos an dieser Stelle gehangen haben mochte. Roger, der ihn unten sicherte, hatte ihn in Ruhe gelassen, weil er sah, dass der Stammkunde nicht in Schwierigkeiten steckte. In der Zwischenzeit war ein anderer Sportler auf der leichteren Strecke bis zur Hälfte hochgeklettert.
Daniel Bradford. Um ein Haar hätte Alex erneut den Halt verloren. Er hatte das Foto dieses Mannes so oft in Zeitschriften und im Internet gesehen, dass er ihn auf Anhieb erkannte.
Zorn brodelte in ihm hoch. Bradford hatte Georgia abgewiesen. Sie hatte ihm ihr Herz geschenkt, den öffentlichen Antrag riskiert, und er hielt sie für nicht gut genug. Sobald es mit Georgia aus gewesen war, hatte er bemerkenswert schnell
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