JULIA SOMMERLIEBE Band 21
Die runden Turmmauern strahlten Schönheit und Kraft aus, und die geschwungene Brücke, die zum Kastell führte, schien eher für Reiter denn eine Limousine gemacht zu sein.
Sie konnte kaum glauben, dass es diesen Platz wirklich gab. Und doch stand das Kastell vor ihr, und der Mann, der ihr nun aus dem Auto half, war dessen Herr und Gebieter. Erst als sie direkt vor Karim el Khalid stand, wurde ihr bewusst, wie groß er war und wie breit seine Schultern. „Kommen Sie.“ Er umfasste ihren Ellbogen, und sie stieg neben ihm die breite Treppe hinauf. Die große Tür mit dem Rundbogen stand offen und bot einen Blick in die reich mit Holz vertäfelte, hohe Eingangshalle mit den Buntglasfenstern und massiven Möbeln.
Linda war plötzlich überwältigt von diesem Ort und dem Mann an ihrer Seite, und sie spürte, wie die Beine unter ihr ein wenig nachgaben. Sofort wurde sie von zwei starken Armen umfangen, die sie hielten, als sie schwankte. Dann wurde sie in diese Arme gehoben, als wäre sie leicht wie ein Kind.
Oh Gott, dachte sie benommen. Eine schöne Art, einen neuen Job zu beginnen. Sie war hierher gekommen, um auf ein Kind aufzupassen. Stattdessen wurde sie nun in eines der Zimmer des castillo getragen, weil sie selbst Fürsorge und Aufmerksamkeit brauchte.
„Es … es tut mir leid, dass ich so viele Umstände mache“, sagte sie mit schwacher Stimme.
„Sie haben sich bewundernswert gehalten.“ El Khalid setzte sie vorsichtig in einen hohen Lehnstuhl aus Samt. „Den meisten würde es nach einer solchen Erfahrung genauso gehen. Lehnen Sie Ihren Kopf zurück, senorita .Ruhen Sie sich aus und erholen sich, während ich nach Kaffee klingle und ein Zimmer für Sie vorbereiten lasse.“
„Aber ich …“ Linda sah ihn an, als würde sie in der Falle sitzen. „Ich kann hier nicht bleiben! Dona Domaya erwartet mich in ihrem Haus.“
„Ich werde ihr eine Nachricht schicken und ihr erklären, was passiert ist.“ Er durchquerte den Raum und ging zu einem Klingelknopf, der sich in der Wand neben einem runden, steinernen Kamin befand. Einen Kamin hätte Linda in einem spanischen Haus eigentlich nicht erwartet, doch jetzt wurde ihr bewusst, dass es im Winter so hoch oben über dem Meer wohl recht kalt werden konnte. Hilflos sah sie zu, wie ihr Gastgeber ungeduldig auf die Klingel drückte, ehe er sich wieder zu ihr umdrehte.
„Eine Tasse Kaffee hilft Ihnen bestimmt, um wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Aber vielleicht sollte ich trotzdem einen Arzt holen lassen, damit er nach Ihnen sieht. Mein Fahrer könnte den medico aus dem Ort in einer halben Stunde hierher …“
„Nein.“ Linda schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht mehr schwindlig … und mir geht es wirklich schon viel besser, abgesehen von den Kopfschmerzen. Könnte Ihr Chauffeur mich vielleicht zu Dona Domayas Haus bringen? Dann könnten Sie sich die Mühe sparen, mich hier in Ihrem Haus versorgen zu müssen.“
„Sehe ich so aus, als ob mir das Mühe machen würde, senorita ?“ Seine große Gestalt hob sich gegen den Kamin ab. „Ich werde wohl kaum ein graues Haar bekommen, wenn ich mich um eine alleinstehende junge Dame aus England kümmere.“
Bei seinen Worten wanderte ihr Blick unwillkürlich zu seinen dichten schwarzen Haaren, ehe sie seinen forschenden Blick bemerkte. Für einen kurzen, aufregenden Moment sah Linda in die unergründlichen dunklen Tiefen seiner Augen und entdeckte eine Dominanz darin, der sie am liebsten auf der Stelle entflohen wäre.
Würde Don Ramos doch kommen und sich ihrer annehmen … Stattdessen betrat ein Hausmädchen in dezenter Uniform den Raum und wurde beauftragt, Kaffee in den sala zu bringen.
„ Si, patron .“ Ehe die Frau sich zurückzog, warf sie einen kurzen Blick in Lindas Richtung. Dann ließ sie sie mit dem deutlichen Eindruck zurück, dass die mit tiefer, energischer Stimme vorgetragenen Anordnungen des pa trons umgehend befolgt würden.
„Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Briten auf ihren Tee schwören“, bemerkte er, „aber unser Kaffee wird Ihnen sicher schmecken. Und ich hoffe, dass es Ihnen zu gegebener Zeit auch in Spanien gefallen wird. Sind Sie das erste Mal im Ausland?“
„Ja, senor .“
„Sie hatten also plötzlich den Wunsch, ihre Flügel auszubreiten?“
Linda nickte. Sie dachte an die vergangenen Streitereien mit Tante Doris, die immer dann aufgekommen waren, wenn Linda den Wunsch geäußert hatte, sich auch einmal außerhalb der Grenzen der Vorstadtidylle bewegen
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