JULIA SOMMERLIEBE Band 21
zu wollen. Ihr Haus im nachgeahmten Tudorstil, versteckt hinter der sorgfältig geschnittenen Ligusterhecke, sah genauso aus wie all die anderen Häuser in der ruhigen, mit sich selbst zufriedenen Nachbarschaft. Und so war es für alle ebenso selbstverständlich, dass der Nachwuchs reiten lernte, im Kingswood Country Club Tennis spielte und untereinander heiratete.
Linda hatte dieses immer gleiche Verhaltensmuster nicht mehr ertragen können, seit sie das College verlassen hatte. Zudem hatte sie gespürt, dass der Druck auf sie, sich mit Larry Nevins zu verloben, immer größer wurde. Im Club wurde er nur der schlaksige Larry genannt. Ein junger Mann, der zur Bedeutungslosigkeit verblasste, als Don Ramos in ihr Leben trat.
In diesem Moment hatte Linda gespürt, dass ihr Schicksal besiegelt war. Sie hatte gewusst, dass sie nach Spanien gehen und die verletzenden Worte vergessen musste, die Tante Doris ihr am Abend vor ihrer Abreise an den Kopf geworfen hatte. Doris hatte sie beschuldigt, nicht besser als ihre selbstsüchtige Mutter zu sein, die davongelaufen war. Sie, Linda, würde es noch bereuen, fremden Boden betreten zu haben, wo sie von der Gunst der Menschen abhängig sei, die ganz anders lebten als die Engländer.
„Das war aber ein tiefer Seufzer, senorita .“ Die sonore Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Vielleicht haben Sie gerade daran gedacht, dass Ihre ersten Stunden in Spanien eher traumatisch waren?“
„Ja“, gestand sie. „Meine Verwandten wollten nicht, dass ich in Spanien arbeite. Sie waren sehr dagegen.“
„Weil Sie noch recht jung sind, nicht wahr?“
„Ich bin dreiundzwanzig, senor .“
„Aha. Ein sehr fortgeschrittenes Alter“, zog er sie auf. „Warten Sie erst mal ab, bis Sie sechsunddreißig sind. Dann fühlen Sie sich zweifellos wirklich alt.“
„Ganz sicher nicht“, gab sie zurück und dachte insgeheim, dass man El Khalid jedes seiner Jahre ansah. Vermutlich waren die große Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, und die heiße Sonne verantwortlich für die tiefen Linien in seinen Zügen. Seine Haut war nicht allein von der Sonne gebräunt, sondern hatte von Natur aus einen dunklen, braunen Ton. Sie ertappte sich dabei, wie sie jede seiner Bewegungen beobachtete, als er auf einem großen Stuhl aus kardinalrotem Leder Platz nahm. Hinter dem Stuhl hing ein großes Gemälde von El Greco, das einen ernst dreinblickenden Vertreter der Kirche von damals zeigte und genau zu der aufwühlend autoritären Ausstrahlung El Khalids zu passen schien. Eine Autorität, die wohl jeden in Schwierigkeiten brachte, der sich ihm entgegenstellte, auch wenn er glaubte, im Recht zu sein.
Die seltsamsten Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie diesen Mann betrachtete, den ein Anflug unnahbarer Einsamkeit umwehte. Mit seiner Ausstrahlung könnte er ebenso gut einer der Verantwortlichen des Ketzergerichts aus längst vergangener Zeit sein, von dem sie gelesen hatte, als sie sich für Spanien zu interessieren begann. Oder vielleicht ein Hexenmeister, der alle in diesem Kastell verzauberte, dachte sie.
„Ihr Ton eben klang so, als würden Sie mich noch für einen Teenager halten“, sagte sie, um sein Schweigen zu brechen, das sie nervös machte.
„Dann bitte ich ergebenst um Verzeihung.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. „Ich vergesse wohl ab und zu, wie leicht man zarte, unschuldige Haut verletzen kann, die noch keine harte Schutzschicht entwickeln konnte.“
Als sein flackernder Blick über ihre Haut wanderte, legte Linda ihre Hand an den Hals, wo sie ihren Herzschlag unter den Fingerspitzen spürte. Erleichtert atmete sie auf, als die Tür sich öffnete und das Hausmädchen mit einem Silbertablett eintrat und damit zu einem ovalen Holztisch ging, dessen Schnitzereien in einem tiefen Rot leuchteten. Linda bemerkte, dass das Kaffeegeschirr aus altem, glänzendem Silber war. Kaum hatte das Mädchen den Kaffee in die Tassen aus feinstem Porzellan geschüttet, erfüllte ein köstliches Aroma die Luft. Linda gab einen Löffel braunen Zucker und einen kleinen Schuss Sahne hinein, während El Khalid etwas auf Spanisch zu dem Mädchen sagte. Nachdem Linda einen Schluck getrunken hatte, musste sie zugeben, dass dies der beste Kaffee war, den sie je gekostet hatte.
„ Muy fino, senorita ?“
Seine Stimme riss sie aus ihrer Begeisterung, und sie erwiderte auf Spanisch: „ Vaya, senor .“ Ja, der Kaffee schmeckte tatsächlich ausgezeichnet.
Erstaunt
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