JULIA SOMMERLIEBE Band 21
wieder berührt hatte.
„Wenn wir uns berühren, sind wir uns nie fremd“, hatte er zu ihr gesagt.
Aber waren sie Fremde, wenn er nicht bei ihr war und sich stattdessen bei diesen kriegerischen Männern befand, die ihren Groll nicht vergessen konnten? Sie würden über die politische Lage sprechen und über die Konflikte mit ihren Feinden. Und Karim würde wieder an das erinnert werden, was Linda ihn vergessen machen wollte.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, jetzt nur noch Trost in der Musik finden zu können. Sie ging zu ihrem Flügel und begann mit einem romantischen Stück von George Gershwin. Eines ihrer liebsten Stücke von ihm war The Man I Love .
Bei Sonnenuntergang ritt sie dann mit Haid Saidi aus, einem schlanken Araber, der auch Spanisch sprach. Er war genauso alt wie Karim. Die beiden Männer waren zusammen in der Armee gewesen, und seither war er bei dem Scheich angestellt. Als Linda nun mit ihm durch die Wüste ritt, die in dem untergehenden Licht wie ein Flammenmeer erglühte, spürte sie, dass er sie mit seinen Adleraugen ansah.
„Ich habe gehört, wie Sie Klavier gespielt haben, Mylady“, bemerkte er. „Sie spielen großartig.“
„Das ist sehr nett von Ihnen.“ Obwohl sie ihn schon oft im Haus gesehen hatte, hatte sie bisher keine Gelegenheit gehabt, sich ausführlich mit ihm zu unterhalten. In diesem Augenblick war sie froh um seine Gesellschaft, die Karim ihm gestattet hatte, da er ihm vertraute wie einem Bruder … schließlich war dies der erste Abend, den sie ohne ihren Ehemann im Ras Blanca verbringen würde.
„Europäische Musik ist ganz anders als die aus dem Orient“, bemerkte sie.
„Der Orient und der Westen sind unterschiedliche Welten“, gab er zurück.
„Dann missbilligen Sie also, dass ich die Frau des Scheichs bin?“ Neugierig sah sie ihn unter dem Rand ihres Hutes hinweg an. An diesem Abend hatte sie sich wieder einmal europäisch kleiden wollen und trug daher einen Hut mit weicher, breiter Krempe. Dazu hatte sie eine Tweedjacke, passend zu ihren Reithosen und Stiefel.
„Es steht mir nicht zu, dazu eine Meinung zu haben, Mylady. Aber zufällig halte ich Sie für eine sehr reizende Frau.“
Lindas Puls beschleunigte sich, aber sie wahrte Haltung. Sie wollte Haid nicht das Gefühl geben, dass sie ihm plötzlich nicht mehr traute, nur weil er ihr ein Kompliment gemacht hatte. Aber wie konnte sie seiner sicher sein, wenn selbst ihr Ehemann eine unbekannte Größe für sie war? Fast wie die Wüste, in der sie sich allein heillos verirren würde.
„Heute Morgen im Basar hat mir einer dieser verhutzelten alten Männer die Zukunft aus den Sandkörnern gelesen. Kann man diesen Männern glauben?“, fragte sie.
„Wer weiß?“ Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Die Hand des Schicksals mischt unser aller Leben auf wie einen Stoß Karten.“
„Er hat einige seltsame Dinge gesagt, die … ich nicht vergessen kann.“
„Perveneh hat mir davon erzählt, Mylady.“
„Ach ja?“ Linda sah ihn neugierig an. „Haben Sie ihr Fragen über mich gestellt?“
„Araber sind forschende Geister.“
„Dann haben Sie also mein Mädchen dazu ermutigt … indiskret zu sein?“
„Nicht direkt indiskret, Mylady.“ Seine dunklen Augen funkelten. „Sie ist ein hübsches Wesen und leistet mir manchmal Gesellschaft. Aber keine Sorge, Mylady, ich würde nie Hand anlegen an ein unschuldiges arabisches Mädchen.“
„Das hoffe ich doch!“ Erst jetzt bemerkte Linda, wie attraktiv Haid mit seinem hageren, aber ausdrucksstarken Gesicht war. „Perveneh ist ein nettes Mädchen und um ihre Heiratschancen stünde es schlecht, wenn Sie …“
„Eine kleine, sanfte Taube, die bei mir sicher ist“, murmelte er.
Linda fragte sich allerdings, ob sie sich bei diesem Araber auch sicher fühlen konnte, der sich das unschuldige Geplapper ihres Mädchens anhörte und sicher seine eigenen Schlüsse zog. In diesem Augenblick erinnerte sie sich an Karims Worte: Dass es gefährlich wäre, wenn seine Landsleute etwas über ihre Mutter erführen.
„Sie waren doch mit Karim in der Armee, nicht wahr?“, sagte sie und umschloss fest die Zügel.
„Der Scheich hat mir das Leben gerettet. Wir suchten das Dorf gerade nach zwei Aufständischen ab. Plötzlich hielt mir einer in einem der Häuser eine Pistole an den Kopf. Er wollte mich gerade ins Jenseits befördern, als El Khalid wie ein Habicht durch die Hintertür flog, mit einem Messer in der Hand. Ein Messer in der Hand
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