JULIA SOMMERLIEBE Band 21
„ una vista fantas tica “ und ahnte, dass die Italienerin ihr einen noch schöneren Aussichtspunkt zeigen wollte.
Am Ende des Weges schloss sich eine hohe Mauer an die letzten Häuser des Ortes an. Marisas Begleiterin blieb stehen und zeigte auf die Wand aus unregelmäßigen Bruchsteinen.
„ Casa Adriana “, erklärte sie. „ Che bella vista. “Sie küsste ihre Fingerspitzen, um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen. Dann fügte sie seufzend hinzu: „ Che tragedia. “
Eine schöne Aussicht, so viel hatte Marisa begriffen. Aber von welcher Tragödie sprach die alte Dame?
Die Frau bedeutete ihr, allein in den Garten zu gehen.
Marisa lief weiter und sah, dass die Mauer schon recht verfallen war. In den Ritzen wuchsen Blumen, und einzelne Steine waren herausgefallen.
Ein Stück weiter entdeckte sie ein schmiedeeisernes Tor, dessen Flügel wie zu einer zaghaften Einladung halb offen standen.
Dahinter schlängelte sich ein zugewucherter Pfad durch Büsche und Blumen. Am Ende des Weges glitzerte das Meer türkisblau und kündigte die versprochene Aussicht an.
Mit klopfendem Herzen stieß Marisa das Tor auf und trat ein.
Die Luft war erfüllt vom Duft des Jasmins, dessen Zweige weit in den Weg hineinragten. Rosen blühten verschwenderisch. Riesige Oleanderbüsche und Bougainvilleen in dunklem Violett wuchsen ungehemmt.
Plötzlich machte der Weg eine scharfe Kehre, und Marisa erblickte ein Haus. Einige Dachziegel fehlten, die Fensterläden hingen schief in den Angeln, mehrere Scheiben waren geborsten.
Doch inmitten des Verfalls entdeckte sie, dass jemand den Rasen gemäht und einzelne Rosenranken hochgebunden hatte. Auf einem Rondell stand ein ausgetrockneter Springbrunnen, in dessen Mitte eine Nymphe mit gesenktem Kopf eine Amphore hielt.
Am Ende des Weges wuchs ein mächtiger Zitronenbaum. Fast wirkte er wie ein Wächter, der die niedrige Mauer hütete, die den Garten einfasste.
Marisa trat näher und warf einen Blick über den kleinen Steinwall. Erschrocken wich sie zurück. Direkt unter ihr fielen die Klippen steil ab, und tief unten schlugen tosend die Wellen gegen die Felsen.
O Gott, dachte sie, vermutlich ist hier die Tragödie geschehen, von der die Frau gesprochen hat – vielleicht ist der Hauseigentümer über die Mauer in den Tod gestürzt. Sie schluckte.
Vorsichtig setzte sie sich auf die alte Bank unter dem Zitronenbaum.
Und dann ließ sie den Blick schweifen. Stumm dankte sie der Fremden, die sie zu dieser grandiosen Aussicht geführt hatte.
Links der Bucht sah sie die terrakottafarbenen Dächer von Amalfi, die sich in die Hänge schmiegten. Unterhalb der Stadt erstreckte sich das Meer. Weiß leuchteten die Schaumkronen auf den Wellen, die sich am Kiesstrand brachen.
Als sie ihren Blick weiterwandern ließ, erkannte sie die Häuser von Ravello und Positano und in weiter Ferne Capri.
Am Horizont verschmolzen das Meer und der Himmel zu einer azurblauen Einheit.
Zum ersten Mal seit Wochen spürte Marisa, wie ihre Traurigkeit nachließ und sich ein Gefühl des Friedens in ihr ausbreitete.
Endlich einmal stand sie nicht unter der ständigen Beobachtung anderer Menschen, die erwarteten, dass sie glücklich und verliebt war. Hier konnte sie einfach nur sie selbst sein, Marisa Brendon – und nicht die junge Frau eines Mannes, dessen Lächeln nie seine Augen erreichte.
Ihr Blick fiel auf den goldenen Ehering, der in der Sonne schimmerte. Aus einem Impuls heraus zog sie ihn ab und steckte ihn tief in die Tasche.
So, dachte sie, jetzt kann ich so tun, als wäre ich hier im Urlaub, als würde mein ganzes Leben noch vor mir liegen und als könnte ich tun, was ich will.
In diesem Moment hörte sie ein Räuspern hinter sich und wurde sich erschrocken bewusst, dass sie nicht allein war.
Sie sprang auf, drehte sich um und erblickte eine kleine ältere Dame. Die Frau trug eine randlose Brille, und unter ihrem Sonnenhut schauten einige graue Haarsträhnen hervor. Auf ihrer kakifarbenen Hose und der Bluse hatten Erde und Gras Spuren hinterlassen. In der einen Hand hielt sie eine Astschere, in der anderen einen Weidenkorb voller Grünschnitt.
Oje, das Haus ist anscheinend doch nicht verlassen. Marisa errötete. „Entschuldigen Sie bitte“, stammelte sie in vor Aufregung fürchterlich gebrochenem Italienisch. „Ich wusste nicht, dass die Villa bewohnt ist. Ich werde sofort gehen.“
Ihr Gegenüber zog die Augenbrauen hoch. „Eine Engländerin!“, sagte die Dame lächelnd. „Wie schön.
Weitere Kostenlose Bücher