JULIA SOMMERLIEBE Band 21
ihm den knallharten Blick zu, den sie vergangene Nacht im Spiegel des Motels geübt hatte.
„Sieh an, sieh an … die wunderbare Miss Mitchell, nehme ich an?“
Seine Stimme erinnerte an Seide, die über rauen Kies gezogen wurde: Trügerisch sanft mit dem knisternden Hauch eines harten Knirschens.
Es war eine Stimme, die daran gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Die gewohnt war, dass man ihr gehorchte. Keinerlei höfliche Rücksicht war darin zu erkennen. Auch keine Arroganz oder Prahlerei. Nur pure Autorität.
Hinter ihrem Rücken ballte Vivian die Hände zur Faust, als die schockierende Wahrheit sie mit voller Wucht traf: Dieser Mann, den sie für den Leibwächter gehalten hatte, war ihr Geschäftspartner. Sie hätte es bevorzugt, mit dem zivilisiert scheinenden Schlipsträger zu verhandeln! Ihn hätte sie davon überzeugen können, einen kleinen Sieg für einen direkten größeren Gewinn zu opfern.
Der Mann, der vor ihr stand, sah jedoch viel zu unkonventionell aus, zu kantig, zu urtümlich, als dass er mit ihr ein schnelles, nur am Geld orientiertes Geschäft gemacht hätte. Er sah aus wie ein Mann, dem ein guter Kampf gefiel – und der viele davon gehabt hatte.
Der Niederlage entgegensehend, gestand Vivian sich ein, dass es kein Zurück mehr gab. Sie wollte mit allen Mitteln versuchen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Aber niemand hatte etwas davon gesagt, dass sie auch nach seinen Regeln kämpfen musste.
3. KAPITEL
„Der schwer zu erreichende Mr. Rose, nehme ich an?“Vivian ahmte seinen spöttischen Tonfall nach und hoffte, viel beherrschter zu klingen, als sie sich tatsächlich fühlte.
Eine kurz andauernde, herausfordernde Stille machte sich breit. Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie noch immer wortlos an, ohne eine Regung zu zeigen.
Nervös strich Vivian ihren Rock glatt. Zu ihrem Entsetzen fühlte sie unter ihren Fingern den zerknitterten Zipfel ihrer Bluse, der unter ihrer aufgeknöpften Jacke hervorlugte. Irgendwie musste der Stoff sich bei diesem nervenaufreibenden Aufstieg hervorgekämpft haben. Sie versuchte, ihre Würde zu wahren, während sie seinem prüfenden Blick weiterhin kühl begegnete und dabei verstohlen ihre Bluse zurück in den Rock stecken wollte.
Natürlich fiel es ihm dennoch auf. Einen kurzen Moment lang erhellte Neugier sein Antlitz, doch dann spiegelte es dieselbe grüblerische Aggressivität wider, die ihr schon zuvor an ihm aufgefallen war.
„Nun denn … Lassen wir es bei den Vermutungen oder beachten wir die Anstandsregeln und stellen uns einander richtig vor?“ Sein Tonfall war spöttisch.
Vivian zögerte und fragte sich, mit welcher Art sie ihm am besten begegnen sollte.
„Hm … Ich glaube, wir wissen, wer wir sind. Lassen wir die Förmlichkeiten.“ Für einen Moment schloss sie die Augen und verfluchte sich, weil sie im kritischen Moment der Mut verließ. Als sie sie wieder öffnete, wartete er schon ganz gespannt.
„Es liegt mir fern, einer Lady zu widersprechen“, entgegnete er höflich. „Vor allem einer so hoch qualifizierten wie Ihnen. Dann kommen wir also darin überein, dass ich Nicholas Rose von Nowhere Island bin und Sie sind die wunderbare Miss Mitchell von Marvel-Mitchell Realties. Willkommen in meiner Welt, Miss Mitchell.“
Schwungvoll stieß er sich von der Tür ab und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Ohne genau hinzusehen bemerkte sie, dass er hinkte. Ebenso unvermittelt registrierte sie den wilden Stolz in seinem glänzenden Auge, das mühelos ihre komplette Aufmerksamkeit fesselte. Als er direkt ihr stand, entdeckte sie, dass in seiner mandelbraunen Iris goldene Funken sprühten. Er war ihr näher, als es angenehm oder höflich gewesen wäre. So dicht vor ihr stehend überragte er sie um mindestens einen halben Kopf.
Vorsichtig nahm sie seine dargebotene Hand. Sie hatte geahnt, dass sein Griff kräftig war, doch das Ausmaß seines Händedrucks überraschte sie trotzdem. Fast vollständig verschwand ihre zierliche Hand in der seinen. Sie hatte das Gefühl, als hielte er sie gefangen. Denn er zog den Augenblick des Kontaktes über das Höfliche hinaus in die Länge. Fast so, als wolle er sie einschüchtern.
Nach einer Weile minderte er den Druck, hielt sie aber noch immer fest. Das Gefühl seiner harten, anscheinend an körperliche Arbeit gewohnten Handfläche auf ihrer weichen Haut entfachte ein beunruhigendes Kribbeln in ihr. Es erinnerte sie an den schwachen, warnenden Stromschlag, den sie bei der
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