JULIA SOMMERLIEBE Band 21
falsche Person am vereinbarten Ort war. Seine offenkundige Ruhe verblüffte sie erneut, denn sie spürte, dass eine alles vernichtende Explosion in ihm brodelte.
Nervös fuhr sie mit der Zunge über ihre volle Unterlippe, ohne sich bewusst zu sein, dass sie ihren sinnlichen Mund dadurch noch betonte. „Sie hat die Grippe“, erklärte sie knapp.
Außerdem war Janna krank vor Schuld und schlechtem Gewissen. Daher war sie auch so leicht zu täuschen gewesen. Vivian hatte ihre Schwester und alle anderen glauben lassen, sie verfolge nur ein Ziel damit, dass sie statt Janna diese Reise antrat: Sie wollte allen eine Weile entfliehen.
„Wie praktisch, dass Sie einspringen konnten.“
Der Hohn in seiner Stimme traf sie wie ein Peitschenhieb. Vivian zuckte zusammen. Er war doch nicht so ruhig, wie er zu sein schien.
„Nicht für Janna. Sie hasst es, krank zu sein.“ Ihre jüngere Schwester war zielstrebig. Als frischgebackene Anwältin, die nun in der Rechtsabteilung von Marvel-Mitchell Realties arbeitete, lag eine rosige Zukunft vor ihr, die Vivian mit allen Mitteln zu schützen beabsichtigte.
„Ich vermute, das verdirbt ihr hinreißendes eisblondes Aussehen?“, bemerkte er und warf einen süffisanten Blick auf ihre wilde, rötlich-braune Mähne.
Vivian stand wie erstarrt da.
„Sie wussten es?“, flüsterte sie erstickt. Schlagartig verließ sie die zur Schau getragene Stärke. Sie fühlte, wie ihre Beine nachzugeben drohten. Gott sei Dank war die Maskerade nur dazu gedacht gewesen, sie hierher zu bringen.
„Vom ersten Moment an, als ich Sie sah.“
„Aber Sie haben Janna oder andere Mitarbeiter von Marvel-Mitchell nie kennengelernt“, wandte sie leise ein. „Bis jetzt haben Sie immer darauf bestanden, einen Mittelsmann dazwischen zu schalten …“
„Und da haben Sie sich dafür entschieden, ehrlich zu sein? Auch wenn ich eine Täuschung vielleicht nicht bemerkt hätte? Ich bin beeindruckt. Oder wollten Sie am Ende genau das erreichen?“, fügte er mit zynischem Unterton hinzu. „Die Frage ist, ob Sie wohl immer so ehrlich sind?“
„Ich versuche es.“ Ihre schroffe Antwort trotzte seinem Spott.
„Wie spitzfindig. Sie versuchen es also. Das heißt aber nicht, dass Sie immer erfolgreich sind, hm?“ Seine Stimme klang mit einem Mal hart. „Sie können nicht so naiv gewesen sein zu glauben, dass ich keine Erkundigungen über die Leute einziehe, mit denen ich zusammenarbeite. Ich bin schließlich kein Narr.“
„Das hatte ich auch nie angenommen.“ Allerdings hatte sie unterschätzt, wie gründlich er sein würde.
„Ich bin sicher“, fügte er hinzu, „dass Marvel ebenfalls eigene Nachforschungen zu meiner Seriosität angestellt hat …?“
Da es eher nach einer Frage als nach einem Kommentar klang, antwortete Vivian darauf. „Außer der aktuellen Prüfung Ihrer Kreditwürdigkeit hielt Peter das für unnötig, da wir seit mehreren Jahren problemlos in Ihrem Namen Immobilien erwerben und verkaufen“, informierte sie ihn barsch. „Auch wenn wir Sie nie kennengelernt haben, sieht Peter Sie als zuverlässigen Partner. Ihre Glaubwürdigkeit haben wir deshalb als selbstverständlich vorausgesetzt, Mr. Rose.“ Ihre großen grünen Augen sahen ihn bei dieser letzten spitzen Bemerkung unschuldig an.
„Nennen Sie mich Nick, Vivian.“ Er reagierte mit der gleichen nichtssagenden Unschuld wie zuvor. „Es gibt keinen Grund, an meiner Seriosität zu zweifeln. Ich arbeite nicht mit Betrügern und Lügnern zusammen. Zu viel Misstrauen ist Gift in einer Geschäftsbeziehung.“
„Sehr vernünftig“,entgegnete sie abgelenkt. Wieso hatte er Gift erwähnt? Verunsichert runzelte sie die Stirn. Hatte das nun etwas zu bedeuten?
„Behandeln Sie mich etwa herablassend, Miss Mitchell?“, fragte er seidenweich. Er kippte mit dem Stuhl wieder vor und beugte seinen breiten Oberkörper in einer Drohgebärde nach vorne.
Diese Frage riss sie aus ihren beunruhigenden Gedanken. „Ich sehe es lieber so, dass ich auf all Ihre kleinen und lästigen Launen eingehe“, konterte sie zuckersüß.
Es folgte eine gefährliche Stille. Drohende Momente herbeizuführen schien er sehr gut zu beherrschen.
Er erhob sich und richtete sich unheilvoll zu voller Größe auf.
„Sie sind mutig, nicht wahr?“, murmelte er.
Das dünne, bedrohliche Lächeln und die Funken sprühenden Goldsprenkel in seinem Auge zeigten ihr, dass dies nicht als Kompliment gemeint war.
„Dann wollen wir mal sehen … Statt des Anwalts, den
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