Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Kutschmas Niedertracht verdrängen für eine gewisse Zeit alle anderen Probleme aus der ukrainischen Politik. Aber ihre Gegner geben sich sicher: Wenn es ihr auf der Pressekonferenz auch gelungen sei, die Reporter zu überzeugen, so benutze sie im Alltag doch einen künstlichen Zopf. Als sie bereits nach den Wahlen zur Obersten Rada in einem Interview erneut gefragt wird, wer sich den Trick ausgedacht hat, »den Zopf vor den Augen der Journalisten zu lösen«, verbreitet sich Julia Timoschenko mit unverhülltem Vergnügen über ihr Lieblingsthema. Das Volk hört gebannt zu.
Sie erklärt, zu Tricks greife ausschließlich die Staatsmacht, um »ihre für alle sichtbare Unfähigkeit zu verhüllen. Solche Tricks denken sich gut bezahlte und fantasievolle Burschen und Mädchen für sie aus. Ich dagegen habe in meinem politischen Leben noch nie Tricks benutzt, weder was den Entwicklungsweg der Ukraine betrifft noch meinen Zopf. Mich interessiert eher die Frage, wer sich für den amtierenden Präsidenten den Trick ausgedacht hat, sich um künstliche Haare auf dem Kopf einer Frau zu kümmern statt um den Weizen auf den Feldern der Ukraine. Vielleicht sollten sie ihn das auf der nächsten Pressekonferenz fragen. Ich denke, das wird das ganze Land interessieren.«
Damit hat sie die Lacher auf ihrer Seite.
Die Anhängerschaft, die sich jetzt unter den Bannern der Schönheit versammelt, ist recht gemischt. Dort treffen politische Häftlinge der kommunistischen Zeit auf frühere Parteifunktionäre, ein früherer Justizminister und ein ehemaliger Erster Sekretär des ukrainischen Komsomol auf Wissenschaftler, Geschäftsleute, Berufsoppositionelle … Kurz vor dem Urnengang weisen Wahlforscher darauf hin, dass nur wenige auf dieser Liste dem Block Nutzen und Stimmen bringen werden. Julia Timoschenko bleibt der einzige Magnet, der die Wähler anzieht. Genau das hat sie gewollt. Die Erste und Einzige in einer Partei zu sein, die ihren stolzen Namen trägt. Jetzt fehlt nicht mehr viel – sie müssen nur noch siegen.
Aber da ist noch eine weitere Schwierigkeit zu überwinden. Persönlich darf Julia eigentlich nur in Kiew um Stimmen werben, denn das Strafverfahren gegen sie ist noch nicht eingestellt. Sie ist zwar in Freiheit, darf aber die Stadt nicht verlassen. Vor dem Zugang zu Fernsehen, Rundfunk und den meisten Zeitungen stehen für sie die Behörden. Als sie in diesen Tagen Viktor Medwedtschuk, den Chef der Vereinigten Sozialdemokraten und Oligarchen aus Kutschmas Umgebung, zum Fernsehduell auffordert, lehnt der höflich, aber entschieden ab. Er hat nicht vergessen, wie Julia dereinst seinen Partner Surkis in Grund und Boden stampfte. Die Lage wirkt nahezu aussichtslos.
Einen eleganten Ausweg finden schließlich ihre Anwälte. Sie hat sich in den letzten Jahren ein starkes Team zugelegt, das von der Staatsanwaltschaft ständig mit Arbeit eingedeckt wird. Einer findet schließlich das rettende Schlupfloch. Er argumentiert, dass es bei der Aufhebung von Julia Timoschenkos Abgeordnetenstatus bei ihrer Aufnahme der Regierungstätigkeit einen Formfehler gegeben habe. Das bedeutet, im Grunde stünden ihr immer noch alle Privilegien eines Parlamentsmitgliedes zu, vor allem die heiß ersehnte Immunität. Daraus folgt weiter, dass ihre Verhaftung im Februar und der Aufenthalt im Gefängnis Unrecht waren. Ihre Unterschrift, mit der sie bei der Entlassung aus der Untersuchungshaft der Ortsbindung zugestimmt hat, ist damit hinfällig. Das Gericht lässt sich auf die wackligen, aber scharfsinnigen Argumente der Verteidigung ein, die verblüffte Staatsanwaltschaft braucht zu lange, um gegen den zweifelhaften Gerichtsbeschluss Berufung einzulegen, und im Januar 2002 kann Julia Timoschenko ihre Wahlkampftour durch das Land beginnen.
Ihr erstes Ziel ist Lwiw, die Hauptstadt Galiziens. Hier im Westen des Landes verachtet man Kutschma am meisten, weil er angeblich die nationale Souveränität an Putin verschachert hat, um sich im Amt zu halten. Außerdem geht es dem Westen seit Ausrufung der Unabhängigkeit wesentlich schlechter als dem industrialisierten Osten. Die Industriegiganten von Dnipropetrowsk, Saporischschja und Donezk haben sich bereits vom Zerfall der UdSSR erholt, im Westen dagegen herrschen Arbeitslosigkeit und Armut. Außerdem ist Lwiw eindeutig Juschtschenko-Land. Die Westukrainer sehen in ihm die nationale Führungsfigur und ihre einzige Hoffnung. Laut Umfragen wird hier über die Hälfte der Wähler für »Unsere Ukraine«
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