JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
sondern so viel Zeit wie möglich mit Rocco verbringen. Aber die Karriere war ihr wichtig. Rocco bot ihr eine Stelle in seiner eigenen Firma an, in der sie erheblich mehr verdient hätte als bei der Bank. Zwei volle Tage hatte sie kein Wort mit ihm gesprochen. Solch ein Gefälligkeitsangebot war eine Beleidigung für alles, was sie bisher aus eigener Kraft geschafft hatte. Rocco hatte den gewaltigen Fehler begangen, ihr aufzuzeigen, wie klein und unbedeutend ihre jetzige Stelle aus seiner Sicht war.
Wütend verzichtete sie auf den Lunch und die Pausen, und stürzte sich mit derselben Energie in die Arbeit wie in das Leben mit Rocco. Sie versuchte, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, was nicht lange funktionierte. Eines Abends schlief sie mitten in einem vollen Restaurant beim Dinner mit ihm ein.
„Ein tolles Kompliment für mich“, stellte Rocco fest.
Als sie auf Fotos an Roccos Seite in den Klatschspalten auftauchte, erntete sie die ersten gezielten Sticheleien und wissenden Blicke ihrer männlichen Kollegen. Einer der Direktoren erzeugte allgemeine Heiterkeit, als er ihr in einer Rede für die kostenlose Publicity dankte, die sie Woodlawn Wyatt verschaffte. Dort, wo sie arbeitete, warteten die Männer nur darauf, dass eine Frau ihren Körper einsetzte, um beruflich und gesellschaftlich voranzukommen. Eine Affäre mit einem wohlhabenden, international einflussreichen Finanzmagnaten verdiente nicht gerade den größten Respekt.
„Weshalb gibst du mir keine Gelegenheit, Rocco kennenzulernen?“, fragte Opal ihre Schwester immer wieder. „Ein rascher Drink am frühen Abend … Nur eine Stunde. Das ist doch keine große Sache.“
Amber betrachtete das perfekte Gesicht ihrer Schwester, und das Herz wurde ihr schwer. Sie konnte es weder mit Opals Aussehen noch mit deren Geistesblitzen aufnehmen. Auch auf keinem anderen Gebiet. „In seinen Kreisen ist es unüblich, einem Mann die Familie vorzustellen. Er könnte es falsch auffassen.“
„Du bist dir seinetwegen sehr unsicher. Mir scheint, du traust deinem Glück nicht, einen Mann seines Kalibers an Land gezogen zu haben, und fragst dich immer noch, was er an dir findet“, sagte Opal und traf mit ihren Worten den Nagel auf den Kopf. „Falls er Bindungsängste hat, solltest du es lieber jetzt als später erkennen. Mach nicht denselben Fehler wie ich seinerzeit. Verschwende keine fünf Jahre deines Lebens damit, nach Ausflüchten für ihn zu suchen und einem Hirngespinst nachzujagen.“
Bei dieser überraschenden Erklärung hatte Amber gemerkt, dass ihre schöne Schwester doch nicht immer und in jeder Beziehung absolut erfolgreich war, wie sie bisher naiverweise angenommen hatte. Offensichtlich war Opal vor ihrer Begegnung mit Neville von einem anderen Mann hingehalten worden, den sie verehrte und der sie sitzen lassen hatte, als sie es am wenigsten erwartete. Zum ersten Mal fühlte sie sich ihrer älteren Schwester wirklich nahe. Trotzdem weigerte sie sich, sich dem einzigen Menschen anzuvertrauen, dem sie intime Dinge hätte gestehen können.
Als sie drei Monate mit Rocco zusammen war, zerbrach sie beinahe an dem völlig menschlichen Bedürfnis, jemandem von ihrem Glück zu erzählen. Es war zum Verzweifeln, dass sie keine Freundin hatte, der sie beichten konnte, dass Rocco der romantischste, fantastischste, absolut wunderbarste Mann auf der Welt war. Der jahrelange Besuch der Abendschule an mehreren Tagen in der Woche und ihre langen Arbeitszeiten hatten verhindert, dass sie enge Freundschaften aufbauen konnte. Dinah Fletcher war mit ihr zur Schule gegangen. Sie hatte sich Ambers Telefonnummer von Opal besorgt und sie auf gut Glück angerufen, um ein Treffen unter Frauen vorzuschlagen und über alte Zeiten zu reden.
Tief in den furchtbaren Erinnerungen an jenen Abend mit Dinah versunken, der alles zerstört hatte, kletterte Amber auf den kräftigen niedrigen Ast einer riesigen Konifere und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Hier unter dieser dichten Baumkrone ist es zumindest noch trocken, dachte sie kläglich. Sie blickte hinauf zu einem locker herabhängenden toten Zweig, auf den ihr Arbeitgeber sie hingewiesen hatte, und überlegte, wie sie ihn am besten entfernen könnte. Zögernd ergriff sie ihren Laubrechen und kletterte mühsam höher.
Plötzlich hörte sie etwas rascheln. Jemand bewegte sich in hohem Tempo durch das Unterholz. Sie erstarrte unwillkürlich und erinnerte sich an ein Erlebnis vor einigen Wochen, als sie von einem sehr
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