JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
betrachtete, und widerstand dem Impuls, ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht zu streichen. Bei Ellie war vor zwei Jahren die Basedow-Krankheit festgestellt worden, eine Autoimmunkrankheit, bei der sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet. Sie hatte eine Schilddrüsenüberfunktion, sodass ihr Stoffwechsel vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten war. Jodie griff nach der Akte. Ellie war ein typischer Fall: Sie war nervös, hatte Schlafstörungen und Albträume, ihr Puls war extrem schnell, ihre Leistungen in der Schule hatten sich verschlechtert, sie war ständig hungrig und verlor gleichzeitig Gewicht.
Die Medikamente, die Ellie seit der Diagnose bekam, vertrug sie gut, und im Moment war sie im Krankenhaus lediglich zur Beobachtung. Doch sie würde Weihnachten zu Hause feiern können. Für ihre Eltern war es immer noch ein Wunder, dass es ihrer Tochter überhaupt wieder gut ging.
Jodie ließ noch einen letzten zärtlichen Blick über das Mädchen gleiten, verließ dann den Raum und ging hinüber zum Schwesternzimmer.
„Feierabend?“, fragte Mick.
Sie nickte.
„Möchtest du reden?“
„Es gibt überhaupt nichts zu besprechen“, erwiderte sie achselzuckend.
„Hmm.“ Mick schien nicht überzeugt, doch er ließ das Thema fallen. „Dann ab nach Hause mit dir. Wir sehen uns morgen.“
„Ja, bis dann.“ Es fiel Jodie schwer, gut gelaunt zu wirken. Vielleicht würden die frische Luft und das Radfahren ihr helfen, die Schwermut abzuschütteln, die sie schon seit Tagen befallen hatte.
Doch die Niedergeschlagenheit blieb. Und als Jodie am Weihnachtsmorgen erwachte, musste sie sich eingestehen, dass ihre schlechte Laune einen Namen hatte: Sam.
Sie hatte ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen, so zumindest schien es ihr. Vermutlich war er über die Feiertage verreist. Wahrscheinlich übernahm Lyn zu Weihnachten wieder die Rufbereitschaft als leitende Ärztin und kam halbtags in die Klinik. Jodie und die anderen Assistenzärzte waren für den weiteren Tag- und Nachtdienst eingeteilt.
Als Jodie ihre Visite gemeinsam mit Megan und Sheila antrat, waren viele Eltern bereits gekommen, um mit ihren Kindern das Weihnachtsfest in der Klinik zu verbringen. Jodie hatte sich einen Haarreif mit Rentierhörnern aus Filz aufgesetzt und sorgte damit in jedem Zimmer, das sie betrat, für Begeisterung bei den kleinen Patienten. Für jedes Kind hatte sie ein kleines Geschenk dabei, das wie ein buntes Knallbonbon eingepackt war. Die Kleinsten bekamen winzige Söckchen, die älteren Kinder kleine Pfeifen, mit denen sie Vogelstimmen nachmachen konnten. Bald war die ganze Station erfüllt von verschiedenen Pfeiftönen, die plötzlich von einem tiefen „Ho, ho, ho“ unterbrochen wurden.
Der Weihnachtsmann! Die kleinen Patienten waren sofort mucksmäuschenstill, als sie ihn hörten. Jodie aber sah den großen, bärtigen Mann im roten Mantel prüfend an. Bisher hatte Richard, der Leiter der Kinderstation, immer die Bescherung übernommen. Doch dieser Weihnachtsmann hatte eine andere Stimme. Jodie sah in sein Gesicht und ihr stockte der Atem. Seit wann hatte Sam heute Dienst? Sie hatte seinen Namen nicht auf dem Plan gesehen.
„Ho, ho, ho, fröhliche Weihnachten wünsche ich euch!“ Der Weihnachtsmann hatte für jedes der gespannt wartenden Kinder ein paar freundliche Worte und ein besonderes Geschenk dabei und zauberte damit ein Strahlen auf jedes der kleinen Gesichter. Jemand hatte eine CD mit Weihnachtsliedern eingelegt, und während „Stille Nacht, heilige Nacht“ erklang, wandte sich der Weihnachtsmann an die Mitarbeiter.
„Fröhliche Weihnachten, Schwester“, sagte er zu Fiona Ferguson und überreichte ihr einen Mistelzweig. „Sie wissen ja: Wer Sie unter einem Mistelzweig küsst, wird Sie heiraten“, erklärte er zwinkernd.
Jodie war irritiert. Dr. Frost flirtete mit den Krankenschwestern? Sie drehte sich um und setzte die Visite fort.
„Frohe Weihnachten, Megan. Frohe Weihnachten, Sheila.“ Auch Jodies Kolleginnen bekamen einen Mistelzweig überreicht und kicherten verlegen.
Gerade als Jodie glaubte, ihm entwischen zu können, hatte Sam sie erreicht.
„Frohe Weihnachten, Dr. Price!“
„Ihnen auch, Weihnachtsmann“, gab Jodie höflich zurück.
Er hielt einen Mistelzweig über sie. „Einen Kuss für den Weihnachtsmann?“, bat er.
Der Ausdruck seiner Augen war unergründlich, doch Jodie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie konnte ihn nicht küssen, hier, vor den Kollegen, unter dem
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