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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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Befriedigung gönnte ich ihr nicht, denn egal, was ich mit mir anstellte, sie schaffte es stets, mich zu übertrumpfen.
    Bis wir das College verließen, hatte ich mein eigenes Image entwickelt: als Gänseblümchen im Blumenbeet der Gesellschaft. Irgendwie süß, aber dennoch ein Unkraut. Als Tante Rose damals unsere Abschlussfotos nebeneinander auf den Flügel stellte, bemerkte sie mit einem traurigen Lächeln, dass ich von den vielen Kursen, die ich belegt hatte, denjenigen als perfekte Anti-Janice mit den besten Ergebnissen abgeschlossen hatte.
    Anders ausgedrückt waren Eva Marias Designerklamotten definitiv nicht mein Stil. Aber was blieb mir denn übrig? Nach dem gestrigen Telefongespräch mit Umberto hatte ich eingesehen, dass ich meine Flip-Flops mal für eine Weile einmotten und meiner bella figura mehr Aufmerksamkeit schenken musste. Schließlich konnte ich im Moment auf keinen Fall riskieren, dass Francesco Maconi, der Finanzberater meiner Mutter, mich für nicht vertrauenswürdig hielt.
    Deswegen probierte ich die Outfits von Eva Maria vor dem Spiegel - eines nach dem anderen, bis ich die richtige Kombi gefunden hatte: ein schmales kleines Kostüm in leuchtendem Rot mit schwarzen Akzenten. Ich sah darin aus, als wäre ich gerade mit vier perfekt zusammenpassenden Gepäckstücken und einem kleinen Hund namens Bijoux aus einem Jaguar gestiegen. Noch wichtiger aber war, dass ich darin wie eine Frau wirkte, die verschollene Erbstücke - und Finanzberater - zum Frühstück verspeiste.
    Im übrigen gab es dazu auch die genau passenden Schuhe.
     
    Wie mir Direttor Rossini erklärt hatte, musste ich, um zum Palazzo Tolomei zu gelangen, entweder die Via del Paradiso hinauf oder die Via della Sapienza entlang. Obwohl beide Straßen - wie die meisten Straßen im Zentrum von Siena - praktisch für den Verkehr gesperrt waren -, warnte er mich davor, dass die Sapienza unter Umständen eine gewisse Herausforderung darstellen könnte und die Paradiso alles in allem wohl der sicherere Weg war.
    Während ich die Via della Sapienza hinunterging, rückten rund um mich herum die Fassaden alter Häuser immer näher, und schon bald steckte ich in einem Labyrinth vergangener Jahrhunderte, das der Logik einer früheren Lebensweise folgte. Über mir wurde ein Band aus blauem Himmel von wehenden Fahnen durchschnitten, deren kühne Farben neben dem mittelalterlichen Stein seltsam lebhaft wirkten, doch abgesehen davon - und einer vereinzelten Jeans, die jemand zum Trocknen aus einem Fenster gehängt hatte - gab es dort kaum etwas, das diesen Ort mit der modernen Zeit verband.
    Die Welt hatte sich rundherum weiterentwickelt, aber Siena war das egal. Von Direttor Rossini wusste ich, dass die Stadt ihre Glanzzeit im späten Mittelalter erlebt hatte. Nun sah ich, wie der ganze Ort alle Vorzüge des Fortschritts entschieden missachtete und an seiner mittelalterlichen Art festhielt. Es gab hier und da Spuren der Renaissance, aber wie der Hoteldirektor mit einem spöttischen Lachen bemerkt hatte, war Siena zu klug gewesen, um sich von den charmanten Playboys der Geschichte verführen zu lassen, jenen sogenannten Meistern, die Gebäude in Hochzeitstorten verwandelten.
    Das Schönste an Siena war daher die Geschlossenheit des Stadtbildes. Selbst jetzt noch, in einer Welt, die sich nicht mehr darum scherte, war sie Sena Vetus Civitas Virginis geblieben - das alte Siena, die Stadt der Jungfrau. Allein schon aus diesem Grund, fasste Direttor Rossini seinen Vortrag zusammen und spreizte dabei alle zehn Finger auf die grüne Marmortheke, sei sie der einzige Ort auf diesem Planeten, wo es sich zu leben lohne.
    »Wo haben Sie denn sonst noch gelebt?«, fragte ich ihn, ohne mir viel dabei zu denken.
    »Ich war mal zwei Tage in Rom«, antwortete er in würdevollem Ton. »Mehr braucht ein Mensch nicht zu sehen, finde ich. Wenn man von einem faulen Apfel abbeißt, isst man schließlich auch nicht weiter, oder?«
     
    Nachdem ich für eine Weile in die stillen Gassen eingetaucht war, kam ich schließlich in einer belebten Fußgängerzone wieder heraus. Meiner Wegbeschreibung nach hieß diese Straße der Corso. Direttor Rossini hatte mir erklärt, dass sie für die vielen Banken bekannt war, die früher ihre Dienste den Fremden anboten, welche entlang der alter Pilgerroute reisten, der Via Francigena, die mitten durch die Stadt geführt hatte. Im Lauf der Jahrhunderte waren unzählige Menschen durch Siena gereist, und viele ausländische Schätze und

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