Julias Geheimnis
ihre Zeit noch lange nicht gekommen, aber Dr. López hatte befohlen, ihr am Morgen als Erstes einen Einlauf und Rizinusöl zu verabreichen.
Später untersuchte er sie. »Der Muttermund sieht gut aus«, erklärte er. »Und das Kind liegt inzwischen gut. Ich werde jetzt die Fruchtblase öffnen.«
Schwester Julia wusste, was jetzt kam. Sobald das Fruchtwasser abgeflossen war, würde der Druck durch den Kopf des Kindes die Kraft und Häufigkeit der Wehen verstärken. Sie half der Schwester, den Operationswagen vorzubereiten, und stellte dann den Wandschirm um das Bett.
Die Krankenschwester legte Danitas Beine in die Halterungen, und Dr. López arbeitete rasch und professionell wie immer.
»Am Tag kann sie besser versorgt werden, Schwester«, murmelte er, als er den Eingriff durchgeführt hatte und seine weiße Maske abnahm.
Danita kreischte, als die erste starke Wehe kam. Die Öffnung der Fruchtblase verkürzte vielleicht die Geburt, aber dadurch war sie auch immer schmerzhafter für die Mutter. Die Wehen kamen so plötzlich und so stark.
Schwester Julia und die Hebamme brachten Danita in den Kreißsaal. Die Hebamme schüttelte den Kopf.
»War es wirklich nötig, die Geburt einzuleiten?« Im Flüsterton riskierte Schwester Julia ihre Frage.
Die Hebamme warf ihr einen Blick zu. »Es ist einfacher so«, erklärte sie.
Das war Schwester Julia bewusst. Nur für wen?
Während Dr. López mit der dritten Geburt des Tages beschäftigt war, huschte Schwester Julia unter dem Vorwand, etwas holen zu wollen, das eine Patientin im Warteraum vergessen hatte, hinunter in sein Sprechzimmer. Zwei- oder dreimal die Woche erfand sie einen Vorwand dazu. Sie musste es so oft tun, wenn sie sichergehen wollte, dass sie über die Geburten und Todesfälle auf dem Laufenden blieb. Einerseits war es so oft genug, dass sie die Namen auswendig lernen konnte, um sie später in ihrer Zelle in Santa Ana in ihr Buch zu schreiben. Andererseits hatte Schwester Julia aber auch herausgefunden, dass sie es in so kurzen Abständen tun musste, sonst waren die Akten schon verschwunden. Wurden sie vernichtet, damit die Vorgänge hier keine Spuren hinterließen? Sie fürchtete ja.
Heiligte der Zweck immer die Mittel? Rasch blätterte Schwester Julia die Ordner im Aktenschrank durch. Ihrer Meinung nach nicht. Sie begriff, dass es vielleicht den Kindern und sogar den Müttern half, sie vor persönlicher Not und wahrscheinlich auch gesellschaftlicher Ächtung zu bewahren. Sie verstand sogar, dass es – auf lange Sicht – gut fürSpanien sein konnte. Aber sie hatte auch miterlebt, was es für die Mütter bedeutete, hatte den Schmerz und den Kummer gesehen. Und, was am schlimmsten war, sie hatte das Sterben miterlebt.
Das dritte Kind starb. Es war ein Junge, genau wie Schwester Julia erwartet hatte.
Sie war bei der Geburt nicht dabei gewesen und hörte erst davon, als die Hebamme zu ihr gelaufen kam, um sie zu holen. »Sie werden gebraucht, um Trost zu spenden, Schwester«, sagte sie. »Es ist wieder ein Kind gestorben.«
Schwester Julia bekam das Kind nicht zu sehen, und seine Mutter durfte es ebenfalls nicht mehr sehen.
»Woran ist der kleine Junge gestorben?«, fragte sie Dr. López, bevor sie an diesem Abend ging.
Er schrieb einen Bericht. »Untergewicht«, erklärte er. »Die Mutter war unterernährt. Er hatte Probleme – eine Zangengeburt.« Er sah kaum zu ihr auf.
Schwester Julia fragte sich, was er auf den Totenschein schreiben würde. Manchmal war er zu selbstsicher, was bedeutete, dass er auch manchmal unachtsam war.
Es klopfte an der Tür – ein Paar, das kam, um sein Adoptivkind abzuholen. Seufzend ließ Schwester Julia die beiden herein.
»Hallo, hallo«, begrüßte der Arzt sie überschwänglich, als sie in sein Sprechzimmer traten.
Schwester Julia ertrug es nicht. Sie wandte sich zum Gehen.
»Seit so vielen Jahren wünsche ich mir einen Sohn«, erklärte der Mann, während er Dr. López die Hand schüttelte. »Und Sie haben mir geholfen. Dafür werde ich Ihnen ewig dankbar sein.« Seine Stimme klang leise und gerührt. »Niehabe ich mir etwas mehr gewünscht. Ich werde dafür sorgen, dass er das allerbeste Leben hat.«
Aber zu welchem Preis?, dachte Schwester Julia. Zu welchem Preis?
Später am Abend, als sie wieder in Santa Ana war, schloss Schwester Julia die Schublade ihres Schreibtisches auf und zog ihr Buch mit den Namen hervor.
Langsam blätterte sie die Seiten um. Sie führte die Aufzeichnungen über die
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