Julias Geheimnis
Kind.
»Wenn es Ihnen gefällt.« Die Ähnlichkeit war einigermaßen getroffen. Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck: erfreut zuerst und dann nachdenklich, als ob das gezeichnete Porträt sie an etwas – oder jemanden – erinnere.
»Es ist sehr gut«, sagte sie. »Danke.«
Er zuckte die Achseln. »Es ist nichts.« Er starrte aufs Meer hinaus. »Mein Vater ist der Experte dafür.«
»Ihr Vater?«
»Enrique Marín.« Er konnte sich kaum überwinden, den Namen auszusprechen. »Er ist Porträtmaler«, erklärte er. Ob er verbittert klang? Wahrscheinlich. Aber sein Vater hatte sich gut geschlagen, sehr gut. Trotzdem: War sein Vater der caballero , der Gentleman geworden, der er immer hatte sein wollen? Ein Bild erschien vor Andrés’ innerem Auge: sein Vater in farbbespritzten Shorts oder Overalls, die dünne Zigarre zwischen den Fingern. Wohl kaum. Ein weiteres Bild erschien – eines, bei dem es Andrés kalt überlief. Schöner Gentleman …
Später liefen sie nach Landon Wood zurück.
»Und wo ist das Cottage, das Sie mir zeigen wollten?«, fragte Ruby.
Sie lächelte ihn an, und plötzlich sehnte er sich danach, sie in die Arme zu ziehen. Sie war diese Art von Frau, bei der man schon genau zu wissen glaubte, wie sie sich anfühlen,wie sie riechen würde. Man glaubte, die Struktur ihrer Haut bereits zu kennen, die Weichheit ihres Haars und ihren Duft, der betörend sein würde. Aber man konnte sich auch irren. Oh, sie strahlte immer noch Traurigkeit aus. Doch gerade das zog ihn an, zog ihn zu ihr.
»In der Pride Bay«, sagte er. »Wenn Sie wollen, können wir nach dem Mittagessen hinfahren. Ich habe den Schlüssel.«
»Mittagessen?«
»Ich hatte an den Pub am Strand gedacht.«
»Einverstanden.«
Nach dem Essen spazierten sie am Chesil Beach entlang. Wie Andrés schien Ruby froh darüber zu sein, wieder auf Meereshöhe zu sein. Und genau wie er schien sie den Strand zu lieben. Er sah zu, wie sie einen Stein aufhob und ihn über die Wellen hüpfen ließ. Wie er war sie an der Küste aufgewachsen; das Meer lag ihr im Blut. Tief sog er die frische, salzige Luft ein. Die prächtigen goldenen Klippen erinnerten ihn schmerzlich an die Playa del Castillo – sein liebstes Stück honigfarbigen Sandstrandes zu Hause auf der Insel, von der Sonne beschienen, vom Wind umweht und im Hintergrund die Berge. Als Junge hatte Andrés dort gesurft wie die meisten Kinder. Aber er hatte das Surfen aufgegeben, als das Malen in seinem Leben immer wichtiger geworden war.
Sie gingen zu dem Häuschen, das eine halbe Meile landeinwärts lag. Es war ein einfaches, weiß gestrichenes Cottage mit zwei Räumen im Erdgeschoss und zwei Zimmern oben. Es gehörte einem von Andrés’ Kunden, der in Sherborne lebte. Er hatte Andrés gebeten, es komplett zu renovieren und es anzustreichen, damit er es vermieten konnte.
»Dann hat er es noch nicht annonciert?«, fragte Ruby,als sie dort ankamen. Mit leicht gerötetem Gesicht wandte sie sich um und sah ihn an. Im Pub hatten beide ein Bier getrunken, Andrés ein Lager und Ruby ein dunkles Ale aus der Gegend. Das hatte ihn verblüfft, denn er hatte sich vorgestellt, dass sie Chardonnay trinken würde oder vielleicht sogar Wodka mit Eis.
»Noch nicht.«
»Und wie viel will er monatlich dafür?« Ihre Miene war jetzt völlig ausdruckslos. Ob ihr das Cottage gefiel? Er hatte keine Ahnung. Er konnte sie sich hier vorstellen, aber was wusste er schon? Auf der Insel war es nicht nötig, Gesichter zu analysieren – die Leute neigten dazu, ihre Gedanken laut herauszuposaunen. In England waren die Menschen reservierter. Man musste erraten, was sie dachten. Vielleicht war das Wetter schuld daran, dass sie alle so verdammt gehemmt waren.
Andrés sagte es ihr. Der Preis war fair, und sie schien das ebenfalls zu finden, weil sie lächelnd nickte. »Wann wäre es frei?«
»Sobald ich mit der Arbeit fertig bin.« Sie standen jetzt in der Küche, in der bislang nur die Grundeinrichtung vorhanden war. »Ich könnte Ihnen noch ein paar Schränke und eine bessere Arbeitsplatte einbauen«, sagte Andrés. »Und vielleicht ein paar Regale im Wohnzimmer?«
»Wäre der Vermieter denn damit einverstanden?«, zog sie ihn auf.
Er zuckte die Achseln. »Solange er nichts dafür bezahlen muss, macht es ihm nichts aus.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Warum wollen Sie das tun, Andrés? Sie kennen mich doch kaum.«
»Einfach so.«
»Aber Andrés …« Die Art, wie sie seinen Namen aussprach,
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