Julias Geheimnis
wirklich nicht. »Er ist sehr nett«, gestand sie. Auf jeden Fall hatte er etwas. Und er war anders; er war so verschieden von James und den anderen Männer, die sie in London kennengelernt hatte, wie man nur sein konnte.
»Und?«
»Nichts.« Sie hielt Mels Blick stand. »Ehrlich. Es gibt nichts zu erzählen.« Noch nicht jedenfalls. Außerdem hatte sie im Moment jede Menge anderer Dinge im Kopf.
Sie nahm einen kleinen Honigtopf in die Hand. Oben auf dem Deckel saß eine kleine gelbschwarze Biene. Sie sah nach dem Preis und zog ihre Geldbörse hervor.
»Wo würdest du anfangen, wenn du jemanden suchen würdest?«, fragte sie Mel.
Der Markt von Pridehaven war ein seltsamer Platz für dieses Gespräch, aber manchmal fiel das Reden leichter, wenn man unter Fremden war und alles um einen herum in Bewegung war. Andere Menschen hielten sich hier nur sekundenlang in Hörweite auf.
»Zum Beispiel deine leibliche Mutter, meinst du?«
»Ja«, sagte sie. »Zum Beispiel Laura.« Ihre leibliche Mutter. Es war komisch, es auszusprechen, es zu denken. Wahrscheinlich hatte sie die Wahrheit immer noch nicht ganz akzeptiert. Laura war die Frau, die sie in sich getragen und zur Welt gebracht hatte. Was hatte Laura diese Erfahrung bedeutet? Denn etwas musste es ihr bedeutet haben. Und was war mit ihrem Vater – wer immer er sein mochte? Wusste er überhaupt von Rubys Existenz?
»Dann hast du also vor, nach ihr zu suchen?«
»Ich kann nicht anders, Mel.« Ruby hatte einen Zipfel von der Vergangenheit erhascht, und nun wollte sie alles wissen.
Aber wo sollte sie beginnen? Sie hatte die Fotos – das war ein Anfang. Wo sie wohl entstanden waren? Sie dachte an den türkisblauen Ozean, das orangefarbene Strandhaus und den Leuchtturm. Aber sie konnte wohl kaum auf Reisen gehen und an den Stränden des Mittelmeers nach einem orangefarbenen Strandhaus und einem Leuchtturm suchen. Und selbst wenn sie den Ort fand – wie wahrscheinlich war es, dass Laura noch dort leben würde? Obwohl … Auf den Fotos hatte es nach einer kleinen Gemeinschaft ausgesehen; es war gut möglich, dass Laura dorthin zurückgekehrt war.
»Hast du ihre letzte bekannte Adresse überprüft?«, schlug Mel vor. Sie blieb an einem Stand mit Obst und Gemüse aus der Gegend stehen und tunkte einen Cracker in eine Chili-Sauce. »Autsch, ist das scharf!« Sie wedelte sich Luft ins Gesicht und verdrehte die Augen.
»Das habe ich schon versucht.« Sie war in die alte Wohngegend ihrer Eltern gegangen, wo auch Pearl Woods und Laura früher gelebt hatten, und hatte mit den Nachbarn gesprochen in der Hoffnung, eine Nachsendeadresse zu bekommen.
»Und?«
»Absolut nichts.« Es war viel zu lange her. Seitdem hatte das Haus ein paar Mal den Besitzer gewechselt. Laura und Pearl …, hatte Ruby gedacht, als sie vor der Tür stand. Ihre Mutter. Ihre Großmutter. Würde sie es je richtig begreifen?
»Was ist denn mit Lauras Vater?«, fragte Mel. Sie war an einen anderen Stand getreten und untersuchte gerade einecremefarbene Servierplatte mit handgemalten roten Mohnblumen.
Ach ja, Rubys Großvater. Derek Woods. Ob er noch lebte? »Er muss mittlerweile weit in den Achtzigern sein«, sagte sie. »Aber Laura hat ihn gehasst.«
»Vielleicht haben sie sich ja versöhnt«, meinte Mel. Sie trennten sich, und Mel betrachtete einen schimmernden blauen Glaskrug, und Ruby sah sich das Muster eines Tellers von Clarice Cliff an. Dann kamen sie wieder zusammen. Es war wie ein Tanz, dachte Ruby. Sie trieben auseinander, an entgegengesetzte Seiten des Standes, warfen einander einen Blick zu, kamen dann wieder zusammen und gingen weiter.
Möglich war es schon, dass die beiden sich versöhnt hatten, dachte sie. Ob Laura je wieder nach England zurückgekehrt war? Und wenn ja, war sie versucht gewesen, Ruby zu suchen? Sie musste weiter versuchen, Laura zu finden, und sei es auch nur, um Antworten auf einige ihrer Fragen zu bekommen.
Auf dem Platz spielte eine Band Swing-Jive-Rock-and-Roll, und sie setzten sich auf eine Bank, um zuzuhören. Ruby wippte mit den Füßen. Wenn Musik spielte, fühlte sie sich immer ein wenig lebendiger. Sie brachte etwas in ihrem Inneren zum Schwingen, als flösse sie durch ihr Blut.
Mel ging Kaffee holen und kehrte mit zwei Tassen und zwei Stück Dorset-Apfelkuchen zurück. »Ein ewiger Kampf«, klagte sie, biss in eines der Stücke und reichte das andere Ruby.
Vor ihnen begannen zwei der Rock and Roller zu tanzen; sie trug einen weiten,
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