Julias Geheimnis
ließ ihn erschauern.
»Ruby.« Er legte die Hände auf ihre Schultern.
Sie sah zu ihm auf – ganz Traurigkeit und Träume und vergissmeinnichtblaue Augen.
Und dann konnte er nicht mehr widerstehen. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie fest auf den Mund, damit sie nicht weitersprach – und weil sie wahrscheinlich gut schmecken würde. Das tat sie. »Ich glaube, wir sind im Geschäft«, sagte er.
Sie sah ihn blinzelnd an. »Küssen Sie jeden, mit dem Sie ein Geschäft abschließen, Andrés?«
Andrés überlegte, was er Tina erzählen sollte, wenn sie sich das nächste Mal danach erkundigte, wie Ruby und er sich verstanden. Er nahm Rubys Hand und schob sie unter seinen Arm. Das wurde langsam zur Gewohnheit. »Sie sind die Erste«, erklärte er.
24. Kapitel
BARCELONA 1956
D as Jahrzehnt schritt voran, und langsam veränderte sich die Situation im Land. Die Lebensmittelkarten verschwanden, und in der Presse las Schwester Julia, dass die Einkommen stiegen. Doch die Wirtschaft war immer noch labil. 1956 zerstörte ein schwerer Frost Spaniens Zitrusfrüchte- und Olivenernte. Darunter litten die Bauern und in der Folge die gesamte Bevölkerung. Das Land schien immer zwei Schritte nach vorn und einen zurück zu tun. Aber trotzdem, dachte Schwester Julia, gab es jetzt ein gewisses Maß an Hoffnung. Als sie heute Morgen zur Klinik gegangen war, hatte sie einen Mann auf der Straße gesehen, der einen Bolero gepfiffen hatte. Ihre Laune hatte sich verbessert. Die Spanier waren ein starkes Volk und ließen sich nicht so leicht unterkriegen.
Jetzt war es sieben Uhr abends, und Schwester Julia war erschöpft. An diesem Tag waren in der Canales-Klinik drei Kinder geboren worden, und sie hatte kaum eine Pause gehabt.
Das erste, dem Herrn sei Dank, ein gesundes Mädchen, war gegen Mittag zur Welt gekommen. Dieses Kind sollte adoptiert werden, und die zukünftigen Eltern würden bald kommen, um es mitzunehmen.
Am Nachmittag hatte Schwester Julia einige Zeit damit verbracht, die Mutter zu trösten, eine Frau namens InésLeón, die die Entscheidung, ihr Kind zur Adoption freizugeben, nur schweren Herzens getroffen hatte.
»Ich bin ganz allein auf der Welt, Schwester«, hatte sie gesagt. »Ich möchte meiner Tochter ein gutes Leben bieten. Sie soll all das haben, was ich ihr nicht geben kann.«
» Sí, sí , natürlich wollen Sie das«, hatte Schwester Julia gemurmelt, während sie Inés half, ihre Muttermilch abzupumpen. Das würde ihr Erleichterung verschaffen und ihrer kleinen Tochter den besten Start ins Leben ermöglichen.
»Aber glauben Sie, dass mein kleines Mädchen mir je verzeihen wird, Schwester?«, fragte Inés.
Schwester Julia unterbrach ihre Tätigkeit kurz und sah sich um, um festzustellen, ob jemand sie gehört hatte – besonders Dr. López. Aber der Arzt besprach sich an der Tür zum Fäkalienraum mit einer der Krankenschwestern, und sonst schien niemand zuzuhören.
Diese Frage hörte Schwester Julia nicht oft. Die Mütter behielten entweder ihre Kinder oder trennten sich von ihnen, weil man sie davon überzeugt hatte, dass es so am besten war. Verzeihen … Was sollte sie dazu sagen? Sie konnte Inés kaum erzählen, dass das kleine Mädchen wahrscheinlich nie erfahren würde, dass es einmal eine andere Mutter gehabt hatte.
»Natürlich wird sie Ihnen verzeihen«, sagte Schwester Julia. »Ich bin mir sicher, dass Ihre Tochter Ihnen dankbar sein wird.« Sie sprach ein stilles Gebet. Würde Gott verstehen, dass die Wahrheit manchmal so schmerzhaft war, dass man sie nicht sagen durfte? Sie hoffte es.
Inés seufzte. »Aber ich werde mich immer fragen, was aus ihr geworden ist, Schwester«, sagte sie.
Und was, wenn auch das Kind sich einmal Gedanken überseine richtige, leibliche Mutter machte? Vielleicht würde man dem Mädchen sagen, dass es adoptiert war, oder es fand es selbst heraus. Und wenn es das tat, dann würde es sich höchstwahrscheinlich auch Fragen stellen. Aus diesem Grund hatte Schwester Julia ihr Buch mit den Namen weitergeführt. Das kleine Mädchen hatte – wie all die anderen Kinder – das Recht zu erfahren, wer seine Mutter war.
Das zweite Kind – ebenfalls ein Mädchen – kam am frühen Nachmittag zur Welt, nachdem die Geburt künstlich eingeleitet worden war. Diese Mutter, Danita Diez, war verheiratet und behielt ihr Kind. Die Hebamme hatte sie massiert, um den Fötus in eine bessere Lage zu bringen. Für Schwester Julia sah es aus, als wäre
Weitere Kostenlose Bücher