Julias Geheimnis
War es noch seine Heimat? Auch darauf gab es keine einfache Antwort. Ja, England bot mehr Möglichkeiten. Aber … Es war immer noch ein großes Aber, so wurde ihm klar. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, wonach ich suche.«
Ruby warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Ich weiß es auch nicht«, gestand sie.
Sie lächelten sich an. Und in diesem Moment spürte er, wie sich etwas um sie legte und vom Rest der Welt trennte. Er wusste, dass sein Instinkt recht gehabt hatte. Er hatte es gespürt in der Sekunde, in der er sie gesehen hatte, in dem Moment, in dem sie begonnen hatte, auf dem Saxofon zu spielen, bei ihrem ersten Gespräch.
Der Weg gabelte sich, und sie bogen zur Klippe am goldenen Kap ab.
»Sie sind natürlich schon einmal hier gewesen, oder?«, fragte er sie.
»Schon lange nicht mehr.« Sie zögerte. Tränen traten ihr in die Augen, und sie wandte den Blick ab, als sähe sie in die Ferne, in die Vergangenheit.
»Was haben Sie, Ruby?« Doch Andrés glaubte zu wissen, was sie fühlte. Genau wie er hatte sie ihre Familie verloren – wenn auch auf andere Weise. War es das, was sie beide verband?
»Ich wollte sagen, dass ich einige Orte meiner Kindheit wiederentdecke, seit meine Eltern gestorben sind.« Sie zögerte, als wolle sie noch mehr sagen. »Seit ich hierher nach Dorset zurückgekehrt bin.«
Er streckte die Hand aus, um ihr über einen Zauntritt zu helfen. Ihre Hand fühlte sich in seiner klein und kalt an. »Ist es denn ein gutes Gefühl, zurückzukehren und die alten Orte noch einmal aufzusuchen?« Er stellte die Frage ebenso an sie wie an sich selbst. Denn die Erinnerungen waren immer da, sie waren in seinem Kopf. Auch das Gefühl war noch da, in seinem Herzen. Das konnte ihm niemand nehmen.
»Meistens fühlt es sich gut an, ja.« Leichtfüßig hüpfte Ruby von dem Zaunübertritt. »Und ich brauche die Verbindung zu ihnen. Besonders jetzt.«
Auch dass die Verbindung wichtig war, konnte er verstehen, obwohl er sich nicht sicher war, was sie mit »besonders jetzt« meinte. Aber nachfragen würde er nicht; sie sollte es ihm selbst erzählen, wenn sie den Zeitpunkt für richtig hielt. Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Den üblichen Zorn auf ihn, auf seinen Vater.
Sie begannen den Aufstieg zur Klippe. »Vermissen Sie Ihre Familie?«, fragte sie ihn.
»Ja«, sagte er. Besonders seine Mutter und seine Schwester fehlten ihm. »Früher haben wir uns nahegestanden.Sehr nahe.« Wie die Steine eines corralito , einer Mauer aus Bruchsteinen. Wie die Wellen des Meeres.
Ruby berührte seinen Arm. »Vielleicht kehren Sie ja eines Tages zurück«, sagte sie. Als sie den Gipfel erreichten, atmete sie tief durch.
Andrés dachte an die Worte seiner Mutter. Es hat sich nichts geändert . Dann konnte er auch nicht zurück. Er schaute auf das Meer und das Dorf hinunter. Hier oben auf der Klippe war es windig, aber unten war es windstill. Er konnte die Häuser auf dem Hügel und die Menschen am Strand von Seatown ganz deutlich erkennen. Er sah Ruby an. Sie war anders als die meisten Leute. Manchmal sagte sie nicht viel, aber sie schien zu wissen, wie man das Richtige sagte. »Vielleicht«, gab er zurück.
Sie wanderten über den grasbewachsenen Kamm des goldenen Kaps auf die andere Seite. Die Klippe war der höchste Punkt von Dorset, und heute herrschte klares Wetter, sodass sie einen ausgezeichneten Panoramablick über die Küste hatten: vorbei an Fleet und bis nach Weymouth auf der einen Seite und fast bist nach Salcombe auf der anderen, weit über Lyme Regis und seine charakteristische Hafenmauer » the Cobb « hinaus. Sie setzten sich, um die Aussicht zu genießen, und unterhielten sich über andere Themen: über Rubys Musik, das Jazz-Café, Tina und Gez und die bevorstehende Sommerausstellung, bei der Andrés seine Arbeiten zeigen würde.
Nach einer Weile zog Andrés das Skizzenbuch aus seiner Tasche, das er immer dabeihatte. Er spürte einen plötzlichen Drang … Rasch, mit kräftigen, sicheren Strichen, zeichnete er die Frau, die auf dem grasbewachsenen Gipfel der Klippe saß und die Arme um die Knie geschlungen hatte. Die Brisebewegte ihr kurzes Haar, und hinter ihr lag das Meer. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an. Ihre Miene wirkte träumerisch. Andrés gefiel das. Er wollte mehr darüber herausfinden, was in diesem Kopf vorging.
Als er fertig war, riss er das Blatt ab und reichte es ihr.
»Für mich?« Sie klatschte in die Hände wie ein
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