Julias Geheimnis
Adoptionen und Todesfälle in der Canales-Klinik so sorgfältig, wie sie konnte. Schwester Julia nahm ihren Stift und schrieb den Eintrag für heute hinein. Das hatte sie täglich getan, seit sie begonnen hatte, das Buch anzulegen. Es füllte sich langsam. Die Frauen, die Kinder zur Welt gebracht hatten. Die Kinder. Die Adoptiveltern. Die Todesfälle. Alle Namen und Daten standen hier.
Da konnte sie doch die Klinik nicht verlassen.
Sie schlug das Buch zu, legte es wieder in die Schublade, schloss sie ab und steckte den kleinen Schlüssel in die Tasche. Sie blickte auf den dunklen Hof hinunter. Wie sie sich danach sehnte, frei von alldem zu sein! Frei zu sein, einfach hier in Santa Ana zu leben, zu studieren und zu lesen, zu beten und nachzudenken. Die Klinik und den Schmerz hinter sich zu lassen. Denn der Schmerz wurde mit den Jahren ja nicht kleiner. Sie fühlte noch immer jede Trennung von Mutter und Kind mit, als erlebe sie ihren eigenen Verlust noch einmal.
Konnte sie noch mehr tun? Jeden Tag und jede Nacht stellte sie sich diese Frage. Sie hatte dem Arzt schon so oft kritische Fragen gestellt, und sie hatte versucht, der ehrwürdigen Mutter die Zustände begreiflich zu machen. Aber waskonnte sie – eine einfache Nonne – schon gegen Autoritätspersonen wie Dr. López ausrichten? Sie hatte die Menschen gesehen, die in die Klinik kamen, und wusste, wie viele Verbindungen zu höheren Stellen er hatte.
Nein. Sie konnte nur weiter das tun, was sie bereits tat: den Frauen und Kindern helfen, so gut sie konnte – und Aufzeichnungen über alles führen. Das war vielleicht nicht viel; aber wie konnte sie die Klinik verlassen, solange sie all das tat?
Als ihre Mutter sie das nächste Mal besuchen kam, waren ihre Augen rot geweint. Sie trug Schwarz, und Schwester Julia wusste es sofort.
»Papa?«, flüsterte sie.
Ihre Mutter nickte. »Bete für ihn, Julia«, sagte sie. »Denn er ist nicht mehr unter uns.«
In der Woche darauf stand Schwester Julia mit ihrer Familie an seinem Grab. Sie sah zu, wie der einfache Holzsarg in die Erde gelassen wurde, und umklammerte ihren Rosenkranz. Es erschien ihr unbegreiflich, dass sein Körper in dieser Kiste lag. Dass sie ihn nie wiedersehen würde. Ihr Verlust kam ihr umso größer vor, wenn sie an all die Jahre dachte, die sie nicht gemeinsam verbracht hatten; die vielen Jahre, die sie im Kloster gelebt hatte, fern von ihrer Familie. Verlorene Jahre waren das. Jahre, die ganz anders verlaufen wären, wenn sie zu Hause bei ihrer Familie geblieben wäre und mit ihnen gelitten hätte, Not, Hunger und Schmerz mit ihnen geteilt hätte.
Sie betrachtete das kleine Grüppchen, das ihre Familie darstellte. Sie sah ihre Mutter an, deren schwarzer Schleierihre Tränen nur schlecht verbarg. Sie betrachtete Matilde, die kühl und aufrecht dastand, am Arm ihres Mannes, den sie doch kaum berührte. Und da war Paloma, die betrübte Paloma, die ohne ihren Mann Mario gekommen war, weil dieser etwas so Dringendes zu tun gefunden hatte, dass er nicht zum Begräbnis seines eigenen Schwiegervaters kommen konnte.
Der Priester stimmte die Worte an, die Schwester Julia so gut kannte. Unser Vater … Ehre sei Gott … In seinem Namen. Amen . Schwester Julia murmelte ihre Antworten. Ihre Schwestern sagten nichts. Ihre Mutter weinte.
Nach dem Gottesdienst stellte Schwester Julia endlich die Frage: »Warum hat er mich nie in Santa Ana besucht, Mama?« Sie musste es wissen.
»Er konnte es nicht ertragen, mein Kind«, sagte ihre Mutter. Sie wandte sich vom Grab ab und nahm Schwester Julias Arm.
»Er konnte es nicht ertragen, mich zu sehen?«
Langsam schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Er konnte nicht ertragen zu sehen, wozu er dich gezwungen hatte.«
Schwester Julia sah zu Boden. Lieber Gott im Himmel, dachte sie.
»Dein Vater war ein stolzer Mann, Julia«, fuhr ihre Mutter fort. »Es hat ihn beschämt, dass er nicht für dich sorgen konnte, wie ein Vater es tun sollte.«
Jetzt spürte Schwester Julia, wie ihr ebenfalls die Tränen in die Augen traten. Sie weinte um ihren Vater, um ihre Mutter, ihre Schwestern und sich selbst. Um alle, die gelitten hatten und immer noch litten.
25. Kapitel
E s war Mittwoch, Mittagszeit. Mel überließ den Hutladen ihrer Angestellten, und sie und Ruby verließen den Laden und standen direkt auf dem wöchentlichen Markt von Pridehaven.
»Geht es dir gut, Liebes?«, fragte Mel. »Was hast du denn so getrieben?«
Wo sollte sie anfangen? Während sie
Weitere Kostenlose Bücher