Julias Geheimnis
schwingenden Rock und er hautenge schwarze Hosen. »Aber man könnte auch anderswo beginnen«, sagte Mel.
»Zum Beispiel?«
Sie zuckte die Achseln. »Man könnte versuchen herauszufinden, wo Laura zur Schule gegangen ist. Man könnte auch eine Anzeige in die Lokalzeitung setzen: ›Steht jemand noch in Kontakt zu Laura Woods?‹ So etwas.«
»Gute Idee.« Ruby nickte. Laura musste ja Freunde hier gehabt haben, als sie siebzehn war. Vielleicht stand noch jemand in Verbindung mit ihr – oder wusste wenigstens, wo diese Fotos aufgenommen worden waren. Zumindest konnte sie ihre Recherchen ein wenig ausweiten. Sie nahm den Deckel von ihrem Kaffeebecher. Der Kaffee war stark, schaumig und dampfte.
»Facebook«, schlug Mel vor. Sie kam richtig in Schwung. »oder eine dieser Seiten, über die man Freunde suchen kann?«
»Warum nicht?« Über die sozialen Netzwerke zu suchen, war eine großartige Idee. Ruby nickte. Sie würde das Foto bei Facebook posten und all ihre Kontakte bitten, wiederum ihre Kontakte zu fragen, ob sie Laura kannten. Hieß es nicht, dass zwischen zwei x-beliebigen Menschen auf der Welt immer nur sechs Schritte lagen?
»Aber was soll ich ihr denn sagen?«, murmelte Ruby. »Hey, ich bin das Baby, das du vor fünfunddreißig Jahren im Stich gelassen hast. Wollen wir Freunde sein?«
Mel lachte. »Oder du heuerst einen Privatdetektiv an. Die haben Zugang zu allen möglichen Behördendaten, die normale Menschen nicht einsehen dürfen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Du weißt schon, Datenschutz und so.«
»Das könnte ich.« Sie hatte auch schon daran gedacht. Aber sie hatte einfach das Gefühl, dass Laura nicht in Großbritannien war. Sie war nicht in der Welt der »Behördendaten« zu finden. Sie hatte sich dem System entzogen – der Bürokratie, den Behörden, dem Papierkram. Sie war ein Freigeist, oder? Man sollte Menschen keine Etiketten aufdrücken – das hatte sie mit zwanzig geglaubt. Und Ruby spürte, dass sie immer noch davon überzeugt war.
Mel stand auf. »Ich muss wieder zur Arbeit, Ruby«, sagte sie. »Lass mich wissen, wie du weiterkommst.«
»Oh, das mache ich.« Vielleicht würde sie Laura nie finden. Aber sie musste es wenigstens versuchen.
Die beiden umarmten sich, aber als Ruby gehen wollte, ließ Mel sie nicht los. »Und wegen dieses Spaniers von der Dinnerparty …«
»Er kommt von den kanarischen Inseln«, sagte Ruby. »Was ist mit ihm?«
»Manchmal muss man einfach die Augen schließen und springen«, meinte Mel. »Sonst lebt man nicht.«
Nachdem Mel zurück in den Laden gegangen war, trank Ruby ihren Kaffee aus, aß den Kuchen und sah den Rock and Rollern zu. Sie schlossen die Augen und sprangen, sie ließen wirklich los. Mel hatte ein wenig traurig ausgesehen, als sie das gesagt hatte. Verschwieg sie ihr etwas, weil sie fand, Ruby sei im Moment zu labil, um ihr eine Hilfe zu sein? Sie beschloss, sie später anzurufen, um es herauszufinden.
Sie dachte an den Spaziergang auf der Klippe mit Andrés und daran, wie er das Porträt von ihr gezeichnet hatte. Seine Stirn war leicht gerunzelt gewesen, während er versucht hatte, die Zeichnung richtig hinzubekommen. Er hatte sie sehr gut getroffen, aber es war noch mehr gewesen: Das Bild hatte sie an jemanden oder etwas erinnert. An das Foto von Laura. In dem Moment, als Ruby die Zeichnung betrachtethatte, da hatte sie nicht nur sich selbst darin erkannt, sondern auch etwas von Laura.
Hatte sie deshalb Viviens Brief nicht geöffnet? War sie dabei, ein geheimes Bündnis mit ihrer leiblichen Mutter zu schmieden; nicht um allen die Zunge herauszustrecken, sondern um sagen zu können: Daher komme ich, und dorthin gehe ich jetzt.
Sie zog die Fotos aus der Handtasche und betrachtete die Aufnahme, auf der Laura sie als Baby auf dem Arm trug. Hatte sie es deshalb immer wieder angesehen, sogar schon, bevor sie die Wahrheit gekannt hatte? Laura anzusehen war, als betrachte sie eine vollkommen Fremde. Und doch war es auch, als schaue sie jemanden an, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte.
26. Kapitel
R uby spielte im Jazz-Café.
Andrés saß auf seinem üblichen Hocker an der Theke und trank ein Bier. Alles war wie früher. Tina eilte geschäftig hinter der Bar umher, holte Bier und Eis und Weinflaschen und plauderte mit ihm, wenn sie nicht bediente. Paare, Einzelpersonen und Gruppen von Freunden strömten durch die Türen und mischten sich an der Bar, setzten sich oder standen manchmal auf, um zu tanzen. Je
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