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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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noch nicht sicher, was er für sie empfand, aber schon glaubte er, dass er verstanden hatte, wer sie war. Er wusste, dass sie vieles gemeinsam hatten, und er konnte ihren Verlust nachempfinden.
    In seinem Fall war der Tod natürlich nur symbolisch gewesen. Tritt nie wieder über diese Schwelle   … Die harte Stimme seines Vaters gellte ihm wieder unangenehm in den Ohren.
    Zu Hause hatten Spannungen geherrscht, solange er denken konnte. Sein Vater war tyrannisch und anspruchsvoll gewesen, und Isabella hatte nach seiner Pfeife getanzt. Seine Mutter war herumgehuscht und hatte versucht, es jedem recht zu machen. Und Andrés hatte sich immer in Schwierigkeiten gebracht.
    »Warum musst du ihm auch widersprechen?«, sagte seine Mutter dann und schnalzte frustriert mit der Zunge. »Wieso kannst du nicht stillschweigen, Sohn, und ihn einfach in Ruhe lassen?«
    Lass ihn in Ruhe. Lass ihn in Ruhe . Als wäre Enrique Marín kein einfacher Sterblicher, kein Mensch, sondern eine Art unantastbarer Gott, den sie alle verehren und anbeten mussten. Während er   … Angewidert schüttelte Andrés den Kopf.
    Die Spannungen hatten zugenommen und waren schlimmer denn je gewesen, als er ein Teenager war, obwohl er nicht wusste, was sich verändert hatte. Sein Vater arbeitete in seinem Atelier, brummte vor sich hin oder brüllte, oder er stapfte mit dem Tuch um den Kopf und der Zigarre zwischen den Lippen zum alten Hafen hinunter, um finster aufs Meer hinauszustarren oder Domino in der Arcorralado-Bar zu spielen.
    L ass ihn in Ruhe   … Mama arbeitete im Haus oder saß vor der Tür und arbeitete an ihren calados   – bestickten Leinendeckchen   –, manchmal allein und schweigend und manchmal zusammen mit den Nachbarinnen, munter plaudernd. Isabella war eine pflichtbewusste Tochter und lief ihrer Mutter nach wie ein Hündchen. Und Andrés malte immer noch.
    Was hatte sich verändert? Das Dorf wurde langsam wohlhabender. Die Landwirtschaft florierte. Dazu kam der Tourismus. Früher einmal hatten die Dorfbewohner davon gelebt, Fisch gegen Ziegenmilch und -käse, Getreide, Feigen und Kaktusfeigen   – entweder frisch oder an der Sonne getrocknet   – einzutauschen. Aber die Touristen hatten alles verändert. Sein Vater verkaufte nun Bilder. Die Zeiten der Armut waren vorbei, jedenfalls sagten die Leute das. Aber warum lächelte Mama dann so selten, und warum hatten sich die Zornesfalten so tief in die Stirn seines Vaters eingegraben? Wieso waren die beiden so unglücklich?
    Damals hatte Andrés es nicht gewusst. Heute konnte er es erraten. Vielleicht hatte Mama damals schon gewusst, was vor sich ging, und hatte die Augen davor verschlossen. Lass ihn in Ruhe   … Wann hatte es angefangen? Wie lange war es gegangen? Auf diese Fragen würde Andrés wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen.
    Und dann war der Song vorüber, Ruby verneigte sich lächelnd und ließ den Gurt des Saxofons von ihrer Schulter gleiten. Das Publikum klatschte Beifall. Andrés stand auf und applaudierte ebenfalls. Tina lächelte zu ihm herüber.
    Ruby verschwand hinter der Bühne.
    Andrés zog noch einen Hocker heran und bestellte ihr einBier. Wieder fühlte er sich als Beschützer   … Er war sich noch nicht sicher, wie er das fand.
    Tina stellte das Bier vor ihn auf die Theke. »Sie spielt wirklich gut«, meinte sie. »Man kann ihren Schmerz richtig spüren.«
    »Ich weiß.« Er sah, dass Ruby auf sie zukam. Die Frau, die mit ihm in Fleecepulli und Bluejeans wandern gegangen war und die an Chesil Beach gesessen und wie ein Kind die Arme um die Knie geschlungen hatte, sah jetzt so glamourös und elegant aus wie ein Filmstar auf dem roten Teppich. Sie lächelte ihn an.
    Andrés stand auf. Wie immer er es betrachtete, das hier war wichtig. Er hatte nicht vor, es zu vermasseln.

27. Kapitel
    BARCELONA 1973
    A ls Schwester Julia von Santa Ana ins Raval-Viertel ging, dachte sie darüber nach, dass die Straßen heutzutage viel belebter waren als früher. Es kamen mehr Besucher in die Stadt, Menschen verschiedener Nationalitäten und Kulturen. Der Tourismus hatte Spanien entdeckt, und in Barcelona gab es viel zu sehen: die Kathedrale und die Häuser von Gaudí, die Parks und die Springbrunnen. Man hörte so viele verschiedene Sprachen. Zuerst fand Schwester Julia das verwirrend   – vielleicht ist Veränderung ja immer verwirrend   –, doch dann wurde es ihr klar: Auf den Straßen war weniger Furcht zu spüren und ein stärkeres Gefühl von Freiheit. Das

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