Julias Geheimnis
später es wurde, umso gedämpfter wurde das Licht. Die Atmosphäre war entspannt, die Stimmung melancholisch.
Und doch hatte sich alles verändert.
Denn Tina hatte nicht gefragt: »Wie versteht ihr euch?« Sie wusste, wie sie sich verstanden. Es war offensichtlich.
Sie waren heute Abend gemeinsam gekommen, mit strahlendem Blick. Sie hatten sich nicht berührt, aber eben doch beinahe. Tina hatte sie nur einmal angesehen.
Andrés wusste, dass Ruby nach ihrem Auftritt kommen und sich auf den Barhocker neben ihm setzen würde. Sie würde Bier trinken, lachen, ein wenig plaudern. Obwohl sie müde war, würde sie nach ihrem Auftritt immer noch aufgedreht sein. Und wenn sie gingen, würde Andrés sie nach Hause bringen.
Gestern hatte er ihr bei ihrem Einzug in das Cottage an der Pride Bay geholfen. In der Woche davor hatte er die Arbeit, die er für diese Woche geplant hatte, zurückgestellt und den Ausbau des Cottage vorgezogen, denn er wollte es für sie fertig machen. Sein Kunde würde nichts gegen die zusätzlichen Einbauten einzuwenden haben. Schließlich erhöhte Andrés damit den Marktwert des Hauses.
»Du brauchst das wirklich nicht alles zu tun, Andrés«, hatte sie während der vergangenen Woche mehrmals zu ihm gesagt. »Ich weiß ja nicht einmal, wie lange ich bleibe.«
Dessen war er sich bewusst. Sie hatte einen Mietvertrag ausgehandelt, der nur drei Monate lief. Das war nicht lange, aber …
»Bis dahin weiß ich es«, hatte sie gesagt.
Und er hatte die Rastlosigkeit in ihrem Blick gesehen. Was würde sie wissen? Wo sie leben wollte? In drei Monaten konnte das Haus ihrer Eltern schon verkauft sein. Hatte sie vor, hier, in der Landschaft ihrer Kindheit, etwas Eigenes zu kaufen? Oder würde sie ganz fortgehen?
»Das macht nichts«, hatte er gesagt. Er verstand, dass sie aus dem Haus ihrer Eltern ausziehen und ihr Leben ohne sie weiterführen musste. Und er wollte, dass sie in der Lage dazu war. Er wollte ihr helfen. Ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl war das. Er kannte sie kaum, und doch hatte er das Bedürfnis, sie zu beschützen. Andrés gefiel das ganz gut.
Er sah zu, wie sie spielte. Sie trug ein eng geschnittenes, rotes Seidenkleid mit geradem Ausschnitt und hochhackige Schuhe. Sie hatte eine kleine, schwarze Halskette umgelegt, und ein schwarzes Armband rutschte zwischen Ellbogen und Handgelenk hin und her, wenn ihr rechter Arm über die Klappen auf- und abglitt. Das blonde Haar war glatt aus dem Gesicht frisiert, und sie trug ihren gewohnten roten Lippenstift. Sie sah großartig aus.
Aber es war nicht nur das. An ihr war etwas Strahlendes, sogar dann, wenn sie ihre traurige Seele durch das Mundstück des Saxofons in ihre Musik fließen ließ, deren klagende Schönheit ihn umschlang, bis Andrés am liebsten geweint hätte. Sie strahlte einfach aus sich selbst heraus wie ein Juwel. Er liebte ihre Traurigkeit, er liebte das Strahlen. Wie ein Stern am Himmel, dachte er. Unerreichbar.
Wenn sie spielte, wenn sie das Instrument nahm und sich im Rhythmus der Melodie bewegte und wiegte, reiste Ruby an einen anderen, weit entfernten Ort. Weit entfernt vom Jazz-Café, weit entfernt von Andrés, weit entfernt von allem in der Welt, die er sehen konnte. Wohin ging sie? Wer wurde sie? Das wusste allein Gott. Er konnte es allerdings nachfühlen. Wenn er sich ganz aufs Malen konzentrierte, empfand er auch häufig dieses entrückte Gefühl. Es existierte nichts anderes mehr, und die Zeit stand still. Die Welt hätte untergehen können, und er hätte es nicht bemerkt.
Gestern Abend hatte er sie zur Feier ihres Umzugs zum Essen ausgeführt. Vermutlich hätte man es ihre erste richtige Verabredung nennen können. Es war ein großartiger Abend gewesen, obwohl er geradezu lächerlich nervös gewesen war, und sie hatte zerstreut gewirkt. Sie beschäftige sich gerade mit etwas, erklärte sie ihm. Momentan müsse sie über vieles nachdenken. Es hatte etwas mit ihren Eltern zu tun. Und dann hatte sie innegehalten und kurz auf ihre typische Art die Stirn gerunzelt, als wolle sie ihm davon erzählen.
»Ist schon in Ordnung«, hatte er gesagt. »Du musst es mir nicht erzählen.« Er hatte keinen Druck auf sie ausüben wollen. Das würde mit der Zeit kommen, sagte er sich. Irgendwann würde Ruby sich ihm anvertrauen. Und das würde dann der richtige Zeitpunkt sein.
Andrés trank einen Schluck von seinem Bier und hielt den Atem an, als die letzten, lang gezogenen Töne erklangen und den Raum füllten. Er war sich
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