Julias Geheimnis
durchscheinend und von goldenem Sand durchzogen, verharrten sie eine Sekunde still, bis sie unten auf den Felsen zusammenkrachten. Jede Welle bog sich nach vorn, verdunkelte sich, senkte sich und zog sich dann zischend dorthin zurück, woher sie gekommen war. Die Insel lag nursechzig Meilen von Afrika entfernt. Die niedrigen, abgetragenen Hügel hinter Schwester Julia waren weich und samtig, rosa und rotgold.
Trotz ihrer Bemühungen, ihren Geist zu reinigen, brodelte das, was Schwester Julia vor langer Zeit in dieser Zeitung gelesen hatte, in ihrem Kopf wie das wild bewegte Meer. Es bewegte sich vor und zurück und rollte umher wie die Wogen. Sogar das Gebet schenkte ihr nicht mehr denselben Trost wie früher. Auch im Gebet fand sie keine Antworten mehr.
»Sie schon wieder, Schwester.«
Schwester Julia zuckte zusammen. Diese Stimme kannte sie. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Sie war tief in Gedanken versunken, und das Meer donnerte so laut, dass es jeden Schritt übertönte. Sicher hatte er sehr laut sprechen müssen, um sich vor dem Hintergrund der Brandung Gehör zu verschaffen.
Sie neigte den Kopf zum Gruß, gab aber keine Antwort. Es war der Mann, der sie damals auf der Plaza angesprochen hatte, als sie die Zeitung gelesen und von dem Skandal um die niños robados erfahren hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich an diesem Tag gefühlt hatte: aufgewühlt, niedergeschmettert von dem, was sie erfahren hatte, fast ungläubig angesichts der Ausmaße des Skandals. Auch halb verdurstet war sie gewesen. Aber der Mann hatte sich wenigstens freundlich verhalten.
»Ich sehe, dass Sie immer noch bekümmert sind.«
Schwester Julia zögerte, ihn anzusehen. Vielleicht sollte sie besser nicht mit ihm reden. Es war seltsam, dass sie ihn ausgerechnet jetzt wiedersah, da sie sich erneut in diesem Gemütszustand befand. War das Zufall? Aber wie konnte dieserMann ein Zeichen Gottes sein? Nein, das war unmöglich. Schwester Julia sah sich um und betrachtete den Himmel, die Klippen und das Meer, das sich in der Unendlichkeit zu verlieren schien. Diese Situation – ja allein den Umstand, dass sie hier mit diesem Mann stand – würde zweifellos jeder, der sie vielleicht beobachtete, für unschicklich halten.
»Es ist niemand hier«, brummte er mit seiner tiefen, gutturalen Stimme. »Nur Sie und ich und das Meer, Schwester.«
Schwester Julia wurde nervös. Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sollte sie ihm misstrauen? Nein, das war nicht nötig. Denn Gott war ebenfalls hier. Er war überall, und Er würde sie beschützen. Außerdem wirkte der Mann nicht bedrohlich. Er hatte geklungen, als mache er nur eine Bemerkung. Und natürlich hatte er recht.
»So ist es allerdings«, gab sie zurück.
»Ach ja.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und sie warf ihm nun doch einen Blick zu. Er wirkte viel älter als bei ihrer letzten Begegnung. Außerdem sah er heute noch dünner und ausgemergelter aus. Die Knochen in seinem Gesicht und sein Schlüsselbein stachen scharf hervor, er war unrasiert, und seine braune Haut wirkte ledrig und trocken. Er sah ganz und gar nicht gesund aus.
Noch während sie das dachte, hielt er eine Hand vor den Mund und hustete leise und rau. »Wir haben alle unsere Probleme«, murmelte er.
Einmal mehr neigte Schwester Julia den Kopf und pflichtete ihm leise bei. » Sí . So ist es.« Was konnte daran schon falsch sein?
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und zog eine Packung dünne Zigarren und eine Streichholzschachtel hervor.
Schwester Julia musterte ihn forschend, und er zuckte die Achseln und steckte beides wieder in die Tasche.
»Wahrscheinlich haben Sie im Kloster niemanden zum Reden«, merkte er an.
Schwester Julia hatte nicht das Gefühl, dass diese Bemerkung nach einer Antwort verlangte. Natürlich stimmte es, was er sagte. In Santa Ana in Barcelona hatte die Mutter Oberin immer Rat und ein aufmerksames Ohr gehabt, obwohl beides Schwester Julias Erfahrung nach weder ausreichend noch zufriedenstellend gewesen war. Aber hier in Nuestra Señora del Carmen lebten sie wie in Klausur. Gelegentlich kam eine der jüngeren Nonnen zu ihr, um Rat zu suchen, und sie half ihr, so gut sie konnte. Aber da Schwester Julia das älteste Mitglieder ihrer Klostergemeinschaft war, nahm man an, dass sie inzwischen wahre spirituelle Weisheit erlangt hatte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie selbst einen Rat brauchen könnte.
»Um mich dagegen schwirren zu viele Menschen herum
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