Julias Geheimnis
wie Moskitos.« Er wedelte mit den Armen, als müsse er sie vertreiben. »Aber kann ich meiner Familie vertrauen?«
Schwester Julia schwieg.
»Nein.« Seine Schultern sackten nach vorn. »Und so ist es auch bei Ihnen im Kloster, vermute ich.« Er wies in die grobe Richtung von Nuestra Señora del Carmen. »Sie haben andere Nonnen, sí, aber keine Vertraute, oder?«
Schwester Julia beobachtete ihn. Sie blinzelte. Sollte sie davongehen?
»Das dachte ich mir.« Er lachte ein tiefes, krächzendes Lachen.
Schwester Julia wandte sich ab.
»Wissen Sie, was man sagt? Geteiltes Leid …«, rief er ihrnach. »Sie können es mir sagen, Schwester. Wer weiß, vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.« Kaum waren die Worte über seine Lippen, spürte Schwester Julia, wie der Wind sie davontrug. Geteiltes Leid …
Sie drehte sich zu ihm um. »Das kann ich nicht, mein Sohn«, sagte sie. Bestimmt wäre es falsch, jemandem außerhalb der Klostergemeinschaft von ihren Problemen zu erzählen, erst recht einem Mann, und das in einer Situation, in der …
Ehe Schwester Julia wusste, wie ihr geschah, fasste er ihren Arm.
Sie zuckte zusammen. Dieser Mann hatte also keine Ehrfurcht vor dem Kleid Gottes. Es war lange her, dass jemand – ob Mann oder Frau – sie so berührt hatte. Es war ein seltsames Gefühl. Einen Moment lang dachte sie an das andere Leben, das sie vielleicht geführt hätte, wenn sie wie ihre Schwestern zu Hause geblieben wäre und nicht in so jungen Jahren der Kirche übergeben worden wäre. Ob sie glücklich geworden wäre? Ob sie jemals ein Mann berührt hätte, geliebt hätte? Oder hätte sie schließlich noch mehr gelitten, so wie ihre Schwestern Paloma und Matilde?
Sie sah auf seine Hand hinunter, die sich in den weißen Stoff ihres Habits krallte, und er zog sie zurück.
»Würden Sie mir helfen, Schwester?«, fragte er.
Schwester Julia hielt seinem flehentlichen Blick stand. »In welcher Weise, mein Sohn?« Sie hörte die Wellen und spürte den Wind und die Sonne, die auf sie beide niederbrannte.
»Ich habe Sünden begangen, die ich bekennen möchte«, murmelte er. Wieder hustete er.
Innerlich erschauerte Schwester Julia. Sie wusste nicht, warum, aber sie konnte nichts dagegen tun.
»Ich bin krank. Ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Sie müssen in die Kapelle kommen«, sagte sie. Sie senkte den Kopf.
Er fluchte unterdrückt. » Chungo, chungo . Gott im Himmel. Ich kann nicht.«
»Dann kann ich nicht mit Ihnen sprechen oder hören, was Sie Gott zu sagen haben«, erklärte Schwester Julia. »Die Kapelle ist Gottes Haus. Sie dürfen keine Angst davor haben, es zu betreten.«
»Hat nicht jeder verdient, dass Gott ihn anhört?«, schrie er in den Wind. Er klang zutiefst verzweifelt. »Verdient nicht jeder Mensch Vergebung für seine Sünden?«
Schwester Julia war von Mitgefühl für ihn erfüllt. Er war ein Mann, der am Ende seiner Kraft war. Es gab niemanden, an den er sich sonst wenden konnte. Er war genauso in Not wie viele andere, dem sie spirituellen Rat gegeben hatte. »Still, mein Sohn.« Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Scheitel.
Kurz schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete, wirkte er ruhiger. »Kommen Sie mit mir, Schwester.«
Und Schwester Julia fühlte sich genötigt, ihm zu einem Felsüberhang zu folgen. Dort setzten sie sich nebeneinander, jedoch ohne sich zu berühren, auf ein windgeschütztes Felssims.
Schwester Julia neigte den Kopf und lauschte.
Als er zu Ende gesprochen hatte, schwieg sie kurz. Jetzt wusste sie, wer der Mann war. Was er war und was er getan hatte. »Ist da noch mehr, mein Sohn?«, fragte sie, denn jetzt konnte sie tatsächlich in sein Herz sehen. Sie dachte an dieFrau aus dem Dorf, die an jenem Tag zu ihr gekommen und ihr die zarte Spitzentischdecke geschenkt hatte, und an die Traurigkeit in ihren dunklen Augen. An das, was ungesagt geblieben war. »Ist da noch etwas, was Sie mir erzählen wollen?«, fragte sie.
33. Kapitel
R uby konnte es kaum abwarten, Andrés davon zu erzählen. Aber sie wollte ihn nicht anrufen; sie wollte es ihm persönlich sagen. War es ein Zufall, dass ihre leibliche Mutter für seinen Vater, den Künstler Enrique Marín, Modell gesessen hatte? Vermutlich nicht. Denn es passte alles zusammen. Dass Laura an einen Ort wie Fuerteventura geflüchtet war und die Art von Leben, die sie geführt haben musste … Ruby konnte beinahe spüren, wie sich die Puzzlesteinchen der Vergangenheit
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