Julias Geheimnis
hat.«
»Herrgott …« Es war so typisch für den Mann, dass er auf eine Zufallsbekanntschaft von den Klippen hörte statt aufdie Frau, die trotz all seiner Launen und Wutausbrüche und Gott wusste, was sonst noch, zu ihm gestanden hatte.
»Es war eine Nonne«, sagte seine Mutter.
Eine Nonne? Ratlos hatte Andrés den Kopf geschüttelt. Er kannte seinen Vater zu gut, um anzunehmen, dass er plötzlich gläubig geworden sei. Niemals, nicht in einer Million Jahren. »Welche Untersuchungen haben sie denn gemacht?«, erkundigte sich Andrés. Denn letztlich kam es nicht darauf an, auf wen sein Vater gehört hatte. Wenigstens war der sture alte Bastard endlich zum Arzt gegangen. Und darüber war er froh – allein um seiner Mutter willen.
»Wie heißt es noch?« Sie sprach langsam. » CT -Scan? Biopsie?«
»Und was ist dabei herausgekommen?« Er stellte fest, dass er die Luft anhielt.
»Sie wissen es noch nicht, Andrés. Es dauert noch einen Tag oder so.«
»Dann rufe ich dich übermorgen noch einmal an«, erklärte er ihr. Es war sein gutes Recht anzurufen. Er hatte ein Recht, es zu erfahren. »Bleib stark, Mama.«
Aber Andrés hatte nicht angerufen, noch nicht. Und auch jetzt konnte er sich nicht dazu überwinden. Aber auch auf seine Arbeit konnte er sich nicht konzentrieren. Er hatte Ruby nicht erzählt, dass es seinem Vater nicht gut ging. Er hatte sich geweigert, über ihn zu sprechen, denn er wollte nicht, dass dieser Mann in irgendeiner Form ihre Beziehung beeinträchtigte. Aber jetzt … Ruby würde nach Fuerteventura fliegen, das wusste er. Sie war fast so stur wie sein Vater, verdammt sollte er sein. Sie würde zum Haus seiner Eltern gehen. Andrés bemerkte, dass er zitterte. Was würde passieren, wenn sie zu seinen Eltern ging? Was würde sie herausfinden?
Er räumte seine Sachen weg, bis ein Anschein von Ordnung herrschte, und schloss das Atelier ab. Es war sinnlos zu arbeiten, solange er innerlich derart kochte.
Andrés ging zum Hafen und zum Strand. Es war noch hell, und der Sonnenuntergang überzog den Himmel mit roten und gelben Streifen und warf ein Licht über das alte Fabrikgelände und die Cottages, das auf unheimliche Weise jenem Licht auf seiner Insel glich, bei dem er so gern gemalt hatte. Normalerweise liebte er diese langen Sommerabende. Aber heute Abend war er nicht in der Stimmung dafür. Wie hätte er das auch sein können?
Wieder dachte Andrés an die Fotos, die Ruby ihm gezeigt hatte. Er dachte an den rotweiß gestreiften Leuchtturm im Hintergrund des Fotos, und er dachte an den rotweiß gestreiften Leuchtturm seiner Kindheit. Herrgott … Wer hätte gedacht, dass es so weit kommen würde?
Früher pflegten Isabella und er an den Sommerwochenenden oder während der Schulferien zum Leuchtturm zu spazieren. Damals war Andrés zwölf oder dreizehn und seine Schwester acht oder neun. Er hatte immer auf sie aufgepasst. Außerdem fühlte er sich wohl in ihrer Gesellschaft und war froh, der Atmosphäre seines Zuhauses zu entrinnen, wo sein Vater tobte und zeterte und seine Mutter hinter ihm herlief, obwohl sie doch nichts richtig machen konnte. Sein Vater wollte seine Kinder ohnehin nicht um sich haben; er ermunterte sie, nach draußen zu gehen, solange sie wollten. Und dann hatte Andrés den Grund dafür herausgefunden …
Bevor man zu den Lagunen am Leuchtturm kam, passierte man eine Bucht. Sie hatte eine perfekte Hufeisenform und war von schwarzen Felsen umgeben, und ihr Wasser war seicht und türkisfarben. Goldener Sand säumte sie, sodass man barfuß hinunterrennen und im Wasser planschen konnte, das immer glasklar war. Das war ihr liebstes Ziel. An diesem Tag hatte Andrés sein Angelzeug und einen blauen Rucksack mit einer Flasche Wasser, seinem Skizzenbuch, Kohle und ein paar Bleistiften dabei, weil er vielleicht fischen oder etwas zeichnen wollte. Isabella hielt eine mit Rosen bedruckte Tasche in der Hand, in der sich ein Buch, Brot, ein Ziegenkäse und ein paar Tomaten befanden. Beide hatten sich ihre Handtücher über die Schultern geworfen. Sie hatten vor, zwischen den Felsentümpeln zu picknicken, und anschließend wollte Andrés ein paar Zeichnungen von dem rotweißen Leuchtturm anfertigen, der wie ein Stab in den Himmel wies. Wenn sich das Licht des Nachmittags veränderte und die Sonne tiefer stand, fischte er meistens.
»Wohin auf der Welt möchtest du am liebsten reisen, Andrés?«, hatte Isabella ihn einmal gefragt. Ihre Stimme ging im Wind und dem fernen
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