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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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angerufen. Am liebsten hätte er sich entschuldigt und gesagt, Ja, ich komme mit . Aber er konnte nicht. Er brachte es einfach nicht fertig.
    Stattdessen rief er seine Mutter in Ricoroque an.
    »Was ist, Mama?«, fragte er sie behutsam.
    »Jetzt wissen wir es genau.« Ihre Stimme brach. »Jetzt wissen wir Bescheid, mein Sohn.«
    »Und?«
    »Er hat Lungenkrebs. Die Diagnose steht fest. NSCLC . Krebs. Er ist im dritten Stadium.«
    »Ist das schlimm?«, fragte er sie. Was genau bedeutete das?
    »Nicht kleinzelliges Lungenkarzinom.« Sie sprach es aus, als lese sie aus einem Lexikon vor. Vielleicht war es ja so. »Die häufigste Art. Es ist schlimm«, erklärte sie. »Er hatte einen großen Tumor im linken Lungenflügel. Er ist fortgeschritten, hat sich aber noch nicht auf andere Organe ausgebreitet, glauben die Ärzte.«
    Aber wie schlimm war schlimm ?
    »Verdammte Zigarren«, murmelte Andrés. Er war wütend, verflucht wütend. Aber er hätte diesmal nicht sagen könne, ob er wütend auf seinen Vater war oder auf den Krebs. Enrique Marín war noch keine siebzig. Was immer er sonst noch war   – er war ein brillanter Künstler, ein kreativer Mensch. Und er war ein Bastard, der Andrés zutiefst ungerecht behandelt hatte. Das Leben war nicht fair. Trotzdem   … Er dachte daran, wie das Gesicht seines Vaters ausgesehen hatte an jenem Tag, an dem er ihn zuletzt gesehen hatte. Tritt nie wieder über diese Schwelle   … Enrique Marín hatte Andrés immer gehasst. Andrés hatte ihn immer enttäuscht. Und nun diese Hiobsbotschaft.
    »Wie viel Zeit hat er noch?«, fragte er seine Mutter. Die Boote wippten sanft auf dem glatten Wasser des Hafens: bunt gestrichene Fischerboote, Kajütboote und Schlauchboote. Obwohl inzwischen kaum noch ein Wind wehte, klirrten ab und zu die Masten.
    »Ein Jahr. Vielleicht weniger.« Sie klang gelassen. Vielleicht war sie schon über den anfänglichen Schock hinweg, den sie erlitten haben musste, als sie die Nachricht erhielt. Möglich war auch, dass sie damit gerechnet hatte. Vielleicht hatten sie das alle.
    Andrés holte tief Luft. Vielleicht nicht einmal ein Jahr   …
    »Und wie hat er es aufgenommen?«
    »›Was wissen die schon?‹, hat er gesagt und ist aus dem Zimmer gestürmt.«
    Darüber hätte Andrés fast gelacht. Es war so typisch für den alten Bastard. »Er wird es aber akzeptieren müssen, und er muss sich behandeln lassen.«
    Seine Mutter schnaubte verächtlich. »Wir werden es versuchen«, sagte sie. »Er redet nur noch von den alten Zeiten, von der alten Medizin. Für Neues hat er nichts mehr übrig.«
    Andrés wusste, was sie meinte. Er hatte die Geschichten von den Ärzten, die alle Krankheiten mit Pflanzenmedizin und dergleichen heilten, oft genug gehört. Einige der älteren Majoreros waren wie sein Vater und glaubten nicht an westliche Medizin wie Tabletten, Antibiotika, Penicillin. SeinVater hatte oft vom Lammdoktor gesprochen, den man so nannte, weil er einst aus Teneriffa auf die Insel gekommen war, um ein paar Lämmer zu verkaufen. Wie Enrique ihnen erzählt hatte, zog er von Dorf zu Dorf. Er behandelte die Leute, bis sie gesund waren, und kam im Gegenzug so lange bei ihnen unter. Für Prognosen und Aderlässe benutzte er Schröpfköpfe und Kerzen, und er stellte Medizin aus Kräutern und Ziegenmilch her. Aber, um Himmels willen, das war Jahre her! Seitdem hatte die medizinische Wissenschaft ja wohl ein paar Fortschritte gemacht.
    »War er so eine Art Schamane?«, hatte Isabella einmal mit großen, weit aufgerissenen Augen gefragt.
    »Was immer er war«, hatte Enrique zurückgegeben, »wir brauchen auf der Insel mehr Ärzte wie ihn. Die Menschen pflegten zu sagen: ›Wenn der Lammdoktor einen nicht heilt, ist man verloren.‹« Er schlug sich auf die Brust. »Ohne ihn wäre euer Vater heute nicht hier.«
    »Warum, Papa?« Isabella war zu ihm gelaufen, und Enrique hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gedrückt.
    Für seine Tochter hatte Enrique Marín immer etwas übrig gehabt, für seinen Sohn nie, dachte Andrés.
    »Meine Mutter stand vor einer schweren Geburt«, hatte sein Vater erklärt. »Man hatte Angst, dass sie sterben würde   – und ihr Kind vielleicht auch.«
    »Nein, Papa«, hatte Isabella gerufen, und Enrique hatte sie fester umarmt. »Mein Vater hörte, dass der Lammdoktor in Laiares sei, um einen Fall von Lungenentzündung zu heilen. Mein Vater rief ihn, und er kam auf seinem weißen Esel angeritten. Er hat uns beide

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