Julias Geheimnis
gerettet.«
»Mama?«, fragte Isabella.
»Ich habe ihn nie gesehen«, sagte diese. »Er ist in dem Jahr gestorben, in dem ich geboren wurde. Aber meine Eltern haben oft von ihm gesprochen. Alle taten das. Auf der Insel war er berühmt. Man sagte, er sei ein großer, freundlicher Mann gewesen.«
»Und er trank gern einen.« Papa lachte laut.
»Die Ärzte trauten ihm nicht«, sagte Mama.
Papa verdrehte die Augen. »Aber die Leute schon.«
»Wie soll die Behandlung aussehen?«, fragte Andrés seine Mutter jetzt. Kräuter oder Ziegenmilch würden nicht dazugehören, so viel war sicher.
Sie seufzte. »Bestrahlung. Vielleicht Chemotherapie. Operieren wollen sie ihn nicht, sagen sie.«
Andrés fragte sich, ob das ein schlechtes Zeichen war. Wahrscheinlich. Aber Krebs war immer schlimm, immer aggressiv.
»Er soll sich gesund ernähren und braucht viel Ruhe. Aber er sagt, dass er noch so viel zu tun hat.« Sie stieß einen leisen, erstickten Laut aus, in dem er ihren Kummer hörte.
Als hätte er ihr nicht schon genug angetan, dachte Andrés. »Und er muss das Rauchen aufgeben.«
Jetzt lachte sie ein raues Lachen. »Das werden wir sehen, mein Sohn. Wir werden sehen.«
Wahrscheinlich war es zu spät dazu; jetzt würde es auch keinen Unterschied mehr machen.
Dieses Mal fragte sie ihn nicht, ob er zurückkommen würde. Auch dieses Mal bedeutete es, was es immer bedeutet hatte. Nichts hat sich geändert … Aber wie fühlte sie sich? Wie verkraftete sie die Tatsache, dass sie ihren Mann verlieren würde?
Andrés verabschiedete sich von ihr und blickte hinüber nach Chesil Beach. Er sah ein Pärchen, das Hand in Hand über die rötlichen Kiesel ging. Hätte er seine Mutter wegen Rubys Besuch vorwarnen sollen? Lieber nicht, entschied er. Es würde kommen, wie es kommen musste …
Aber was würde kommen? Andrés unterdrückte einen Schauder. Er stand auf und ging durch die Dämmerung zurück zu seinem Haus. Er wollte Ruby gerne sehen. Er wollte mit ihr zusammen sein, aber er wusste, dass es nicht möglich war. Wie sollte das gehen, solange er nicht wusste, ob er sie verloren hatte? Wenn er sie jetzt noch nicht verloren hatte, dann würde er es vielleicht bald tun. Es kam darauf an, was sie in Ricoroque herausfand. Er konnte sich ein Leben ohne Ruby nicht vorstellen, aber auch keines ohne seinen Vater. Der Mann war immer so eine Macht gewesen. Wie konnte eine solche Macht je vergehen? Dabei hatte er sich schon häufig verzweifelt gewünscht, sie würde es tun. Er tat es auch jetzt.
35. Kapitel
E s gibt immer einen toten Winkel.
Wo war sie?
Schweißgebadet wachte Ruby auf. Sie lag auf dem Rücken, die Arme zur Seite geworfen und die Beine in einem seltsamen Winkel von sich gestreckt. In ihrem Albtraum hatte ihre Mutter so dagelegen. Auf der Straße, in einer Blutlache. Ihre Mutter – Vivien.
Ruby fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Beim Schlafengehen hatte sie an ihre Reise gedacht, auf der sie ihre leibliche Mutter suchen wollte. Mit diesem Traum war sie auch wieder erwacht. Mit der Mutter, die sie großgezogen hatte. Und mit dem Unfall. Mit der einen Frage, an die zu denken sie nicht ertragen konnte und die sie doch nicht aus dem Kopf bekam.
Sie setzte sich auf, griff nach dem Glas Wasser neben ihrem Bett und stützte sich auf den Ellbogen, um davon zu trinken. Es war noch recht dunkel im Zimmer, obwohl schon ein wenig Licht durch die dünnen Schlafzimmervorhänge fiel. Sie schloss daraus, dass es eher früh am Morgen statt tief in der Nacht war. Sie war allein.
Sie war so aufgeregt gewesen, als sie zu Andrés gegangen war. Sie hatte es nicht abwarten können, ihm Lauras Bild auf dem Laptop zu zeigen. Aber schließlich war sie allein zu Hause gelandet und hatte per Internet einen Flug für eine Person nach Fuerteventura gebucht. Sie musste fliegen. Sie wusste, dass Enriques Porträt Laura darstellte. Doch was war,wenn Laura heute gar nicht mehr dort lebte? Und was, wenn sie da war, sie aber nicht kennenlernen wollte? Dann hätte Ruby es wenigstens versucht. Im Internet hatte sie ein Hotel im Dorf Ricoroque gefunden und ein Zimmer reserviert. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie brauchen würde – mindestens eine Woche. Sie würde übermorgen fliegen und sich ein Taxi zum Flughafen Bournemouth nehmen. Andrés Marín würde sie um gar nichts bitten. Sie hatte keine Ahnung, was in ihn gefahren war, dass er sich so verhielt. Aber wahrscheinlich war es besser, sie fand es jetzt
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