Julias Geheimnis
ich bereue nicht, dass wir das getan haben. Ich würde es wieder tun.
Und du sollst wissen, meine allerliebste Ruby, dass du meinen S egen hast, falls du nach Laura suchen willst, deiner leiblichen Mutter. Ich verstehe deine Beweggründe, und ich bin froh darüber.
Immer deine dich liebende Mutter,
Vivien
Rubys Augen füllten sich mit Tränen, sodass sie die letzten Worte kaum noch erkennen konnte. Ja, natürlich verzieh sie ihr. Und natürlich verstand sie. Immer deine dich liebende Mutter … Es stimmte ja auch. Vivien war immer im echten Sinn des Worts ihre Mutter gewesen. Sie hatte sie gerettet, großgezogen und geliebt. Ihr Vater hatte Ruby ebenfalls geliebt. Niemand hätte mehr für sie tun können als die beiden. Vivien war im Leben großzügig gewesen, und auch jetzt, in diesen Worten, zeigte sie sich großzügig. Sie hatte begriffen, dass Ruby die Wahrheit erfahren musste, daher hatte sie diese Schuhschachtel im Kleiderschrank platziert, wo sie sie finden musste. Sie hatte auch verstanden, dass Ruby das Bedürfnis haben würde, Laura zu finden, die letzten Lücken zu füllen.
Ruby ging ins Haus zurück. Sie ließ die Schlüssel für die neuen Bewohner auf dem Tischchen in der Diele liegen. Später würde sie ein weiteres Exemplar in den Briefkasten des Maklers werfen.
Sie öffnete die Haustür, ohne zurückzusehen. Dieser Brief … Er bewies doch, dass sie das Richtige tat, oder?
36. Kapitel
DORSET, 20. MÄRZ 2012
F ertig, Liebling?« Tom stand in seiner schwarzen Lederjacke da und sah genau wie der Rocker aus, der er gern gewesen wäre – allerdings mit über sechzig. Vivien musste lächeln. Easy Rider …
»Fertig.« Sie bückte sich, um die knöchelhohen Stiefel zuzuschnüren, die Tom ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. »Für mein Biker-Girl«, hatte er gesagt. Sie schlang ihr Haar zu einem lockeren Knoten, den sie unter den Helm stecken konnte, und streifte die Jacke über. Sie war natürlich auch kein junger Hüpfer mehr, eher eine Rocker-Oma.
Tom grinste.
»Was?«
»Du bist genauso schön wie an dem ersten Tag, an dem ich dich auf dem Charmouth Fair gesehen habe«, sagte er.
»Ach, jetzt hör aber auf.«
»Ehrlich.«
Mir geht es genauso, dachte sie. If paradise is half as nice … Hatte er sich so sehr verändert? Er hatte sich immer schon ein Motorrad gewünscht – schon damals mit sechzehn. Kurz hatte er sogar eines besessen, als sie frisch verheiratet waren. Bevor das Geld knapp wurde. Vor Ruby …
Vivien folgte ihm aus der Haustür. Der rote Ofen – wie Tom ihn manchmal nannte – wartete und glänzte frisch poliert.
Er reichte ihr den Helm.
Und wieder stellte sie fest, dass sie darüber nachdachte. Sollte sie oder nicht? Sie wollte mit ihr reden, wirklich, seit Jahren schon. Ruby verdiente es, alles zu erfahren. Sie sollte es wissen. Aber sie musste auch an Tom denken . Ich glaube nicht, dass ich das könnte, Liebling …
Tom schwang sich auf das Motorrad und ließ den Motor an. »Komm, steig auf«, sagte er.
Dass sie für Ruby gesorgt hatte, hatte nichts an ihrem Leben mit Tom geändert, dachte Vivien. Was Vivien betraf, hatte Ruby ihr Leben reicher gemacht, und sie vermutete, dass Tom es genauso empfand. Er betete dieses Mädchen an. Sie beide taten das. Niemand hätte Ruby mehr lieben können als sie.
Sie stieg hinter ihm auf das Motorrad und schlang die Arme um seinen Rücken. Sie lehnte sich an. Das Leben mit ihm war schön. Sie hatte so viel, auf das sie sich freuen konnte. Sie gingen zusammen spazieren, redeten, schmiedeten Pläne. Besonders jetzt, nachdem Ruby erwachsen war, glücklich und unabhängig – alles, was Vivien sich für sie hätte wünschen können.
Sie spürte den Fahrtwind, als sie starteten und das Motorrad immer schneller in Richtung Pride Bay fuhr. Vivien hatte Ruby immer geliebt wie ein eigenes Kind. Im Lauf der Jahre hatte sie sich manchmal erlaubt zu vergessen, dass sie nicht ihre Tochter war. Nur manchmal wachte sie nachts voller Panik auf und dachte: Laura.
Im Lauf der Jahre hatte sie sich oft gefragt, was wäre, wenn Laura plötzlich aus heiterem Himmel auftauchen und ihr Kind zurückverlangen würde. Wie würde sie damit zurechtkommen? Wie würde Ruby das verkraften? Aber natürlichwar sie nie gekommen. Laura hatte ihre Tochter geliebt – das verriet Vivien der Inhalt der Schuhschachtel, die sie zurückgelassen hatte, selbst wenn sie den Blick in den Augen des armen Mädchens nicht
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