Julias Geheimnis
heraus statt später. Sie hatte wirklich geglaubt, Andrés könne der Richtige sein. Aber es sah aus, als hätte sie sich geirrt, wieder einmal.
Ruby ließ sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Sie seufzte. Es war schon eine Weile her, seit sie diesen Traum gehabt hatte. Seit sie sich gefragt hatte, ob Vivien gewusst hatte, dass sie sterben würde. Hatte sie es gewusst, als sie sah, wie der Wagen zum Überholen ausscherte, weil der Fahrer das Motorrad nicht gesehen hatte? Vielleicht hatte Vivien den Wagen auch nicht sehen können; vielleicht hatte sie das Gesicht an den Rücken von Rubys Vater geschmiegt; vielleicht hatte sie nur ihn gesehen?
Es gibt immer einen toten Winkel.
Oder hatte sie es erst gewusst, als sie spürte, wie das Motorrad unter ihnen ins Schleudern geriet und ihr Vater die Kontrolle verlor? Als Vivien vom Sitz gerissen und davongeschleudert wurde und auf die Straße knallte? Hatte sie es gewusst, als sie das Kreischen der Bremsen hörte oder das durchdringende, grelle Kreischen von Metall auf Metall im Moment des Aufpralls? Ein Schauer überlief Ruby.
Dann war es schwarz um sie geworden. Hatte sie es da gewusst? War ihr da klargeworden, dass sie sterben würde?
Ruby schlug die Augen auf. Heute Nacht würde sie nicht mehr schlafen können.
Die Polizisten hatten ihr gesagt, dass die beiden sofort tot gewesen wären. Dass sie keine Zeit gehabt hätten, auch nur darüber nachzudenken.
Sie rollte sich auf ihrer Bettseite zusammen und tastete nach Andrés, obwohl sie genau wusste, dass er nicht da war. Kein warmer Körper im Bett neben ihr. Nicht einmal eine gemütliche Kuhle, die er im Schlaf hätte hinterlassen können – vielleicht, als wäre er einfach aufgestanden, um Tee zu kochen.
Kein Andrés. Keine Eltern. Ruby war allein.
An diesem Nachmittag ging sie zum letzten Mal zum Haus ihrer Eltern, dem Heim ihrer Kindheit. Der Verkauf war inzwischen abgeschlossen, und Ruby spürte nichts als Erleichterung. Sie schloss die Haustür auf und ging dann durch einen Raum nach dem anderen, um sich endgültig zu verabschieden. Sie ging noch einmal in die Küche, in der ihre Mutter für sie alle gekocht hatte, in die Zimmer, in denen sie geschlafen hatten, ins Wohnzimmer, wo Vivien ihre Aquarelle gemalt hatte. Ohne ihre Möbel, ohne sie wirkte das Haus so anders. Es war leer. Das Haus, das einst ihre Familie beherbergt hatte, ihr Leben, ihr Lachen, ihre Stimmen, ihre Tränen, war nur noch eine leere Hülle.
Sie ging in den Garten, den ihre Mutter so geliebt hatte. Das Gras musste dringend gemäht werden. Die weißen Rosen und Wicken blühten noch; ihr Duft hing schwer in der Luft. Ruby zog den Brief, den Vivien für sie geschrieben hatte, aus der Tasche. Es war Zeit. Sie wollte nicht mehr wütend auf ihre Eltern sein. Das war ihre Chance herauszufinden,was ihre Mutter wirklich gedacht hatte. Mit dem Daumennagel riss sie den Kleberand auf.
Ruby, mein Liebling,
wenn du dies liest, ist mir etwas zugestoßen, bevor ich die Möglichkeit hatte, dir unsere Geschichte zu erzählen. Wenn du dies liest, hat Frances – die, wie du weißt, meine beste und treueste Freundin ist – beschlossen, dass du alles erfahren sollst. Alles.
Wie kann man entscheiden, ob es für jemanden, den man liebt, besser ist, alles zu wissen, oder nicht? Ich konnte das nie. Dein Vater wusste, was er glaubte: dass vorbei vorbei ist. Warum die Vergangenheit wieder aufrühren? Wieso verheilte Wunden erneut aufreißen? Aber ich war da nie seiner Meinung. Ich war der Meinung, dass du es verdient hast, die Wahrheit zu erfahren. Deswegen habe ich auch Frances um das gebeten, was sie jetzt offensichtlich getan hat.
Aber ich hoffe, meine liebste Ruby, dass ich vorher den Mut aufbringe, es dir selbst zu sagen. Ich hoffe, dass wir beide uns zusammensetzen und darüber reden können. Und ich hoffe, dass du dich dazu durchringen kannst, deinem Vater und mir zu verzeihen, was wir getan haben. Ich möchte dir vieles erklären. Ich will dir sagen, dass wir es deinetwegen getan haben – aber auch für uns selbst. Ich habe mir dich so sehr gewünscht, verstehst du?
Bitte gib Laura keine Schuld. Auch sie hat an dich gedacht, das weiß ich. Und wenn wir alle das Falsche getan haben, nun, dann hat dein Vater recht, und alles ist geschehen und lange vorbei.
Du sollst wissen, dass wir dich lieben. Ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht leidtut. Natürlich tut es mir leid, dass wir dich getäuscht haben. Aber
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