Julias Geheimnis
England zurückgekehrt war, nachdem sie vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, und dass sie Ruby an Tom und Vivien Rae übergeben hatten, damit sie auf sie aufpassten, weil Laura sich für Ruby ein anderes Leben wünschte.
Die alte Nonne schien zu verstehen, was sie sagte, obwohl sie schwieg, während Ruby erzählte. Doch Ruby empfand ihre Gegenwart als sehr beruhigend.
»Ich habe ein Foto«, sagte sie.
»Darf ich es sehen?«
»Natürlich.« Sie hatten inzwischen die Klippen erreicht. Es war windig, aber Schwester Julia schien es kaum zu bemerken. Tief unter ihnen wogte das ungezähmte Meer, und die Wogen bäumten sich auf und krachten gegen die schwarzen Felsen.
Ruby kramte in ihrer Handtasche und fand die Fotos, die sie immer bei sich trug. »Ich habe auf Enrique Maríns Webseite ein Porträt meiner leiblichen Mutter entdeckt«, erklärte sie ihr. »Daher bin ich nach Fuerteventura gekommen, um mit ihm zu sprechen.«
Schwester Julia betrachtete das Foto und schirmte es mit der Hand vor dem Wind ab. Auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln, und ihre Miene wirkte heiter. Ruby gewann den Eindruck, dass sie häufig hierherkam, um mit dem Wind, dem Meer und den Bergen allein zu sein und mit Gott zu sprechen – oder womit auch immer. Diese Landschaft strahlte etwas Urtümliches, Ungezähmtes aus. Man spürte die Kraft der Natur; man konnte gar nicht anders, als sie zu spüren.
»Sie müssen sich sehr gewünscht haben, sie zu finden«, meinte Schwester Julia.
»Ja, und ich wünsche es mir immer noch.« Ruby ertappte sich dabei, dass sie ihr den Rest der Geschichte erzählte. Von dem Motorradunfall und Viviens und Toms Tod. Davon, wie sie die Puzzlestücke der Geschichte um ihre Geburt zusammengesetzt hatte. »Ich bin Journalistin«, erklärte sie beinahe entschuldigend. »Es ist mein Beruf, Geschichten zu recherchieren und darüber zu schreiben. Meine Mutter – das heißt Vivien – pflegte zu sagen, ich sei schon neugierig auf die Welt gekommen.«
»Sie sagen, Sie seien Journalistin.« Schwester Julia warf ihr einen äußerst seltsamen Blick zu.
»Ja.«
»Und Sie recherchieren Geschichten?«
»Ja, so ist es.« Was sollte das denn jetzt? Die Nonne schien gut zu verstehen, was sie sagte. Aber es war, als dächte sie an etwas ganz anderes.
»Und Sie sind auf der Suche nach Ihrer Mutter.« Schwester Julia hielt das Foto vor ihre Brust und blickte zum Horizont. »Jetzt verstehe ich auch, warum Enrique Marín Sie zu mir geschickt hat«, sagte sie. »Ich hatte es zuerst missverstanden. Ich dachte, Sie bräuchten meine Hilfe, meine Liebe.«
»Aber so ist es ja auch.«
Schwester Julia nickte. »Und ich brauche ebenfalls Ihre Hilfe, mein Kind«, sagte sie. »Ein weiteres Zeichen benötige ich nicht.«
Was begriff sie hier nicht? Wie sollte sie dieser alten Nonne helfen? Natürlich würde sie das gern tun, wenn sie konnte. »Kennen Sie diese Frau, Schwester?«, fragte sie nach einer kleinen Pause, als es aussah, als hätte sich Schwester Julia wieder gesammelt. »Kennen Sie meine leibliche Mutter?«
»Oh ja. Wir sollten jetzt zurückgehen, mein Kind.«
Sie kannte sie. Ruby spürte, wie Hoffnung in ihr aufstieg. »Lebt sie in der Nähe?«, fragte sie, während sie sich umdrehten. Sie musste versuchen, geduldig zu sein, doch es fiel ihr schwer.
»Sie kam manchmal nach Nuestra Señora del Carmen«, erklärte Schwester Julia. »Um Kräuter zu pflücken – zum Kochen und als Medizin.«
Ruby nickte. Das passte zu dem Leben, das Laura geführthaben musste: einfach, aufs Wesentliche beschränkt, ein wenig alternativ.
Schwester Julia lächelte in sich hinein. »Sie besaß sehr wenig«, sagte sie. »Und wir teilten gern. Wenn es auf unserem Stück Land etwas zu arbeiten gab, kam sie manchmal mit ein paar Freunden, um uns zu helfen.«
Ruby spürte, wie ihre Aufregung wuchs. »In letzter Zeit noch?«, fragte sie. Sie fühlte, dass die Spur heißer wurde.
Aber Schwester Julia schüttelte den Kopf. »Seit ein paar Jahren nicht mehr«, sagte sie. »Aber wir leben ziemlich weit draußen, wie Sie ja wissen. Vielleicht fällt es ihr heutzutage nicht mehr so leicht hierherzukommen.«
Ruby spürte, wie ihr der Atem stockte. »Dann wissen Sie, wo sie wohnt?«, flüsterte sie.
Schwester Julia griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, wo sie früher gewohnt hat, mein Kind«, erklärte sie. »Laura lebte in einem Strandhaus in Los Lagos, in der Nähe der Bucht, kurz vor dem Leuchtturm.«
»Oh, mein Gott«, stieß Ruby
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