Julias Geheimnis
hervor. Dann fiel ihr wieder ein, wer ihre Begleiterin war. »Tut mir leid, Schwester. Aber …« Laura lebte in diesem Strandhaus – oder hatte zumindest früher dort gelebt –, das ganz in der Nähe der Stelle lag, an der sie noch heute Morgen mit Isabella gestanden hatte.
»Ich verstehe.« Die alte Nonne nickte. »Sie sehnen sich sehr danach, sie zu treffen. Das ist sehr aufregend für Sie. Vielleicht ist das ja das Ende Ihrer Reise.«
Sie hatten die weißen Mauern des Klosters erreicht. »Es ist auch möglich, dass sie gar kein Interesse daran hat, mich wiederzusehen«, sagte Ruby, obwohl sie keine Lust hatte, sich nicht allzu eingehend mit dieser Aussicht zu beschäftigen.»Aber ich habe das Gefühl, dass ich es wenigstens versuchen muss.« Vor allem jetzt, nachdem sie diese Zeichnungen von Enrique gesehen und diese Trauer in Lauras Augen gespürt hatte. »Da ist noch so vieles, was ich gern wissen möchte. Ich glaube, es würde mir helfen, mich vollständig zu fühlen.«
»Vollständig, ja«, wiederholte Schwester Julia. »Ich finde, jeder hat das Recht, die Umstände seiner Geburt zu kennen. Es ist ein wesentliches Bedürfnis, ein Grundrecht. Finden Sie nicht auch?« Sie nahm Rubys Hand und sah ihr in die Augen.
Ihr Griff war erstaunlich fest. »Ja.« Ruby hatte das Gefühl, dass sie sich gerade mit mehr einverstanden erklärt hatte, als ausgesprochen worden war. Aber sie war bereit dazu, was immer es sein mochte. Sie vertraute dieser Frau und wollte ihr helfen.
Schwester Julia wirkte zufrieden. »Wenn Sie in Los Lagos gewesen sind«, sagte sie. »Wenn Sie auf Ihrer Reise so weit gekommen sind, wie es momentan möglich ist, würden Sie mich dann noch einmal im Kloster besuchen?«
»Natürlich.« Sie würde kommen und ihr berichten, was passiert war, was sie herausgefunden hatte und ob sie Laura gefunden hatte oder nicht.
»Denn ich habe Ihnen eine Geschichte zu erzählen«, sagte Schwester Julia.
»Ach?«
»Eine wichtige Geschichte.« Sie nickte. »Sie ist der Grund, aus dem Gott Sie hierher zu mir geführt hat, mein Kind.«
41. Kapitel
N achdem die junge Frau fort war, zog Schwester Julia sich in ihre einfache, weiß getünchte Zelle im ersten Stock von Nuestra Señora del Carmen zurück. Sie setzte sich auf den Holzstuhl und ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. »Lieber Gott, lieber Gott«, murmelte sie. »Sie ist gekommen.« So lange hatte sie gewartet. Sie schloss die Augen und spürte, wie ein nie gekanntes Gefühl von Frieden sie überkam. Aber es war noch nicht vollbracht. Es gab noch mehr zu tun.
Nach ein paar Sekunden hob sie den Kopf und stand auf. Manchmal war es sogar für eine Ordensfrau schwer, gelassen zu bleiben. So viele Jahre lang hatte sie getan, was sie konnte, um diesen armen, unglücklichen Frauen in ihrer Zeit der Not beizustehen. Sie hatte sich ihre Geschichten angehört und ihnen so viel Trost geschenkt, wie sie zu geben vermochte. Wenn sie sich in der Lage dazu gefühlt hatte, hatte sie den Autoritäten gegenüber offen gesprochen, und sie hatte zu Gott gebetet, er möge ihr zeigen, was sie tun sollte. Oh, wie sie zu Gott gebetet hatte! Und dann hatte sie natürlich begonnen, das Buch mit den Namen zu füllen … Das schien alles so lange her zu sein. Aber sie hatte diese Aufzeichnungen über die Frauen, die Adoptiveltern und die Kinder geführt. Es war ein Risiko gewesen, aber sie hatte das Gefühl gehabt, dass es alles war, was sie tun konnte. War sie nicht einfach eine arme Nonne ohne jede Macht gewesen? War sie nicht auch den Umständen ausgeliefert gewesen?
Vielleicht. Und doch … Sie stand an dem Bogenfenster und sah auf den kleinen, runden Hof mit dem Feigenbaum und dem Brunnen hinaus. Sie hatte danebengestanden. Sie hatte zugelassen, dass es geschah. Sie trug eine Mitschuld.
Schwester Julia seufzte. Das war eine schwere Bürde. Damals, als sie hierher nach Nuestra Señora del Carmen gekommen war, hatte sie wirklich versucht, den Dorfbewohnern zu helfen und Wiedergutmachung für alles zu leisten, was sie falsch gemacht hatte. Wenn sie anderen spirituellen Rat und Trost spenden konnte, hatte sie gedacht, wenn sie ihre Tage in Kontemplation und Gebet verbringen konnte, würde Gott ihr dann nicht ein Zeichen schicken? Würde Er ihr nicht zeigen, was sie tun musste? Würde Er ihr nicht vergeben und ihr erlauben, in Frieden auszuruhen? Aber sie kämpfte seit Jahren mit dem Wissen, das sie in ihrem Herzen trug. Und manchmal hatte es ausgesehen,
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