Julias Geheimnis
schon. Sie war hergekommen, um vielleicht Laura zu finden, auf jeden Fall aber, um wenigstens etwas über ihre leiblichen Eltern zu erfahren. Sie wünschte,Laura hätte sich dieser Frau anvertraut. Dann hätte sie vielleicht herausfinden können, wer ihr Vater war, wie Laura sich gefühlt hatte, als sie ihr Baby weggegeben hatte, und möglicherweise sogar, warum sie es getan hatte. Warum hatte sie denn ein so starkes Bedürfnis zu wissen, dass es nicht leicht für Laura gewesen war, dass es ihr immer leidgetan hatte, dass sie sich vielleicht gewünscht hätte, die Zeit zurückzudrehen …? Zurückgewiesen zu werden, war nicht schön, und es war nicht leicht, überlegte Ruby düster.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann«, meinte Trish mit mitfühlendem Blick.
Ruby trank von dem Orangensaft, den Trish ihr gebracht hatte. Aber vielleicht wusste sie ja doch noch etwas. Schließlich hatte sie Laura offensichtlich besser gekannt als jeder andere, mit dem Ruby bisher gesprochen hatte. Ruby konnte vielleicht doch noch mehr über Laura herausfinden. Sie sah sich in dem Raum um. »Dieses Haus ist wirklich cool«, meinte sie. Trish hatte die Tür offen gelassen, und draußen war das ewige Lied von Wind und Ozean zu hören. Wie schön musste es sein, bei dieser Geräuschkulisse einzuschlafen und davon in den Traum gewiegt zu werden. Wie schön, wenn es das Erste war, das man am Morgen beim Aufwachen hörte.
Trish nickte. »Das fand Laura auch«, sagte sie. »Sie hatte es von dem Deutschen gemietet, der es gebaut hat – irgendwann in den 1970ern, glaube ich. Es war so ein verrückter Traum von ihm, verstehen Sie?« Sie lachte. Ruby wusste genau, was sie meinte.
Genauso etwas mussten die Leute damals getan haben. Lass uns an den Strand ziehen und alles hinter uns lassen . Und das in einem Haus, das alles andere als konventionell war; das sonderbar und schräg und vielleicht ein Symbol dafürwar, dass seine Bewohner vom Rest der Welt da draußen anders betrachtet werden wollten. Ende der 1970er-Jahre war auch Ruby geboren worden, genau gesagt 1978.
»Hat sie hier mit Julio zusammengelebt, als Sie sie kennengelernt haben?« Ruby dachte an Lauras Freund, der auf dem Foto beiläufig den Arm um sie gelegt hatte. Vielleicht hatte er sich nicht die Verantwortung für das Baby von jemand anderem aufbürden wollen. Aber wie viele junge Männer in diesem Alter hätten das gewollt? Rubys leiblicher Vater hatte es auch nicht getan. Vielleicht hatte er ja auch zu den jungen Leuten gehört, die sich treiben ließen und nur auf der Durchreise waren.
»Als ich sie kennengelernt habe, war sie allein. Aber die Menschen hier kommen und gehen.« Trish zeigte auf den Strand draußen, und Ruby fiel wieder ein, was sie über sich bewegende Landschaften und Treibsand gedacht hatte – und über Menschen, die sich treiben ließen, wie Laura, wie Trish. Menschen, die mit dem Wind und mit Ebbe und Flut kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. »Was ist aus dem Deutschen, der das Haus gebaut hat, geworden?«, fragte sie.
Trish zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat die Insel verlassen. Aber vorher hat er im Dorf noch ein paar konventionellere Häuser gebaut«, meinte sie lachend. »Er hat ein bisschen für Laura geschwärmt. Aber das taten die meisten Männer. Sie pflegte sich mit jemandem zusammenzutun, dann versuchte er, sie festzuhalten, und für gewöhnlich war das der Anfang vom Ende.«
Ruby fragte sich, ob ihr Vater einer dieser Männer gewesen war. Hatte ihr leiblicher Vater ebenfalls versucht, Laura festzuhalten, und sie dann verloren – und nicht einmal gewusst, dass sie bereits schwanger von ihm war?
»Hat sie ihm Miete gezahlt?«, fragte Ruby, obwohl sie nicht ganz sicher war, worauf sie hinauswollte.
»Wahrscheinlich«, meinte Trish vage. »Dann ist er einfach verschwunden. Vielleicht ist er zurück nach Deutschland gegangen. Keine Ahnung.«
So wie Laura verschwunden war, überlegte Ruby. Anschließend hatte wohl Laura das Haus übernommen. Weil sich jemand darum kümmern musste, weil sie es brauchte, und weil es eben da war. Ruby erstarrte. Genau wie Vivien das Kind übernommen hatte, das Laura zurückgelassen hatte. Wahrscheinlich war es etwas anderes, wenn es um ein Kind ging. Aber trotzdem begriff sie, wie einfach es vielleicht erscheinen konnte, wenn das Haus oder das Kind einem vorkamen wie die Erfüllung aller Träume. Aber was war mit diesem deutschen Bauunternehmer? Was, wenn er Laura das Haus
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