Julias Geheimnis
wegen Ruby überlassen hatte? Was, wenn Laura sogar Teil seines verrückten Traums gewesen war? Was, wenn …?
»Das war natürlich äußerst praktisch«, fügte Trish hinzu.
Das konnte man wohl sagen. »Und wie lange wohnen Sie schon hier?«, fragte Ruby sie. Sie wirkte, als hätte sie sich schon vor langer Zeit hier niedergelassen und würde sich hier sehr zu Hause fühlen.
»Seit zwanzig Jahren.« Trish verzog das Gesicht. »Ursprünglich bin ich mit meinem Freund hergekommen. Wir waren auf der Flucht.« Vertraulich beugte sie sich zu Ruby herüber. »Die meisten Menschen hier laufen vor irgendetwas davon.«
Das konnte Ruby sich wohl vorstellen. Wovor hatte Laura zu fliehen versucht? Vielleicht vor der Trennung ihrer Eltern? Vor dem Verlust ihrer Mutter? Vor ihrem Baby? Sie starrte aufs Meer hinaus. Und was tat man, wenn man nichtmehr zu flüchten brauchte? Oder wenn man der Sonne, der Wellen und des Windes überdrüssig wurde? Wahrscheinlich passierte das nie – bei manchen Menschen.
»Und Sie sind Laura begegnet?«
»Ja, genau, ich bin ihr einfach begegnet.« Trish nickte. »Ich war frisch getrennt, und mir ging langsam das Geld aus. Eines Tages bin ich am Strand entlanggegangen und habe jemanden Gitarre spielen gehört. Die Musik schien den Wind und die Wellen zu übertönen. Sie war magisch.« Sie lächelte.
»Laura?«
»Hmmm … mhhh.« Sie trank von ihrem Saft. »Wir kamen ins Gespräch, und ich habe ihr erzählt, was passiert war. Sie sagte, ich könnte in das Strandhaus ziehen. ›Manche Leute machen so was‹, sagte sie. ›Das ist keine große Sache.‹« Sie lehnte sich zurück. »Es war so eine Art offenes Haus. Jeder war willkommen, solange er die Gastfreundschaft nicht ausnutzte.« Sie warf Ruby einen langen Blick zu. »Aber für mich bedeutete es natürlich sehr viel.«
»Natürlich.« Und es gab Ruby ein gutes Gefühl – so wie vorhin, als sie mit Schwester Julia über Laura gesprochen hatte. Es war schön zu wissen, dass die leibliche Mutter ein anständiger Mensch gewesen war. Auch wenn sie dich weggegeben hat , flüsterte eine leise Stimme.
»Sie hat vielen Leuten geholfen.« Trish wurde nachdenklich. »In kleinen Dingen. Sie ließ die Leute in Ruhe. Zuerst hat sie ihr Essen und ihr Haus mit mir geteilt; und später habe ich dann einen Job als Kellnerin in der Tapas-Bar am Alten Hafen gefunden und konnte ihr auch etwas zurückgeben – ein bisschen Geld als Miete.«
»Und Sie sind nie wieder fortgegangen?«
»Ich bin geblieben.«
Ruby konnte sich vorstellen, warum. Sogar jetzt, als sie hier in diesem Weidensessel saß und dem Wind und dem Meer lauschte, spürte sie, wie sie sich entspannte, herunterkam und losließ. Es war, als flösse der ganze Stress der letzten Monate seit dem Tod ihrer Eltern nach und nach aus ihr hinaus. Und was blieb – war was? Das Gefühl, einfach zu sein. Auch wenn das ein wenig kitschig klang, dachte sie.
»Wie war Laura?«, fragte sie Trish. Wahrscheinlich hatte Laura dieses Gefühl, einfach nur zu sein, ebenfalls gekannt. Es schien zu allem zu passen, was sie bisher über sie gehört hatte.
»Unvoreingenommen. Ruhig. Freundlich. Ein bisschen durchgeknallt.« Sie lächelte. »Sie pflegte in der Strandbar in Los Lagos zu spielen und zu singen.«
Ruby nickte. Sie war vorhin daran vorbeigekommen.
»Und in einer Bar im Dorf. Sie spielte für ihr Essen und ein wenig Geld auf die Hand, das war alles. Aber sie schuf eine ganz besondere Atmosphäre – eine Wärme.« Sie lächelte Ruby zu. »Die Menschen mochten sie gern. Sie hat auch geputzt, in den Ferienwohnungen.«
Die hatte Ruby auch gesehen – ein paar Komplexe, die in den Außenbezirken des Dorfs am Strand errichtet worden waren.
»Sie hat ein einfaches Leben geführt«, erklärte Trish. »Als ich ein kleines Erbe von meinen Eltern bekam …« Ihr Blick verdüsterte sich, als erinnere sie sich ebenfalls daran, wovor sie geflüchtet war. »… da habe ich die Verantwortung für dieses Haus übernommen, und ich versuche, seinen Charakter lebendig zu halten.«
»Dass jeder willkommen ist?«
»Mehr oder weniger.« Trish zuckte die Achseln. »Ich habeversucht, Laura etwas Geld zu geben, aber sie war einfach nicht interessiert. Darum geht es nicht, pflegte sie zu sagen. Ich wusste, was sie meinte. Aber wir können nicht alle so stark sein wie Laura.«
Ruby dachte an das junge Mädchen, das nach England gefahren war und ihr Baby Vivien und Tom Rae gegeben hatte, damit sie
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