Julias Geheimnis
lag, und in der Ferne den rotweiß gestreiften Leuchtturm. Lautlos schossen die Tauben in Formation über die orangefarbenen und weißen Dächer und hoben sich vor dem rosig-blauen Himmel ab. Andrés versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, hier in diesem Atelier zu arbeiten. Himmlisch wäre das.
Er wandte sich wieder zu seinem Vater um. »Ich muss dich etwas fragen, Papa«, erklärte er. »Es ist wichtig.«
»Oh, ja.« Sein Vater nickte, als wüsste er bereits, um was es ging. »Wahrscheinlich ist es das. Und ich habe dir auch etwas zu sagen, Junge. Es wird langsam Zeit. Wie ich deiner Mutter schon häufiger erklärt habe, können wir es nicht länger aufschieben, jetzt nicht mehr. Ich muss dir etwas sagen.«
43. Kapitel
W as sie wohl vorfinden würde …?
Ruby versuchte, nicht daran zu denken, versuchte, ihre Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. Sie nahm denselben Weg wie mit Isabella und ging am Strand entlang, vorbei an den halbkreisförmigen Felsformationen. Der Mann an der Hotelrezeption hatte ihr erzählt, dass man sie corralitos nannte. Diese aufeinandergehäuften Lavafelsen fungierten als natürliche Windbrecher und boten Schutz vor dem starken Wind, der jetzt sogar um ihre Knöchel herum Sand auffliegen ließ und ihr das Haar aus dem Gesicht wehte. Sie mochte das Gefühl. Der Leuchtturm in der Ferne schien sie zu verspotten – je nachdem, wie sich das Ufer dahinschlängelte, schien er in einem Moment ganz nah zu sein und im nächsten schon wieder weit entfernt.
Sie dachte an Schwester Julia. Warum wollte sie, dass Ruby noch einmal zurückkam? Was war das für eine Geschichte, die sie zu erzählen hatte? Wenn du nicht hingehst, wirst du es nie erfahren … Sie würde es tun müssen. Abgesehen davon, dass sie die alte Dame nicht enttäuschen wollte, war sie schließlich Journalistin, oder? Wie auch immer ihre persönlichen Lebensumstände gerade aussehen mochten, sie würde hoffentlich nie ihr Gespür für eine Geschichte verlieren.
Sie blieb oben auf den Felsen stehen und blickte hinab auf die Bucht, die Isabella als die »geheime Bucht« bezeichnet hatte. Der Strand war fast verlassen, und auf der anderen Seite der Bucht, nahe den Dünen, konnte sie das orangefarbene Strandhaus erkennen und dahinter den Leuchtturm, der wie ein rotweiß gestreifter Finger in den Himmel ragte. Sie dachte an Laura und die Fotos. Jetzt sah es wieder aus, als sei der Leuchtturm sehr weit entfernt.
Am Ufer lief die Brandung in schaumigen Wellen auf dem Sand aus, und Ruby rannte spontan hinunter, zog die Schuhe aus und ließ die Füße in den weichen, körnigen Sand sinken. Das heranrinnende Wasser schäumte kribbelnd um ihre Zehen. Sie ging weiter zu der Felsnase, die die Grenze der Bucht bildete. Die hereinkommende Flut ließ hier winzige Felsteiche mit Meerwasser zurück, in denen kleine Brachvögel und Seeschwalben nach Futter suchten. Das Wasser war so klar, dass sie den felsigen Grund und die winzigen Fische, die darüber hinwegschwommen, erkennen konnte.
Über den Sand ging sie zum Strandhaus. Gelbe, stachlige Sukkulenten säumten einen Pfad, der sich zwischen den Dünen auf den Leuchtturm – el faro – zuschlängelte. Sie hielt die Hand über die Augen, um ihn besser sehen zu können. Ob auch Andrés den Weg zum Leuchtturm gegangen war – um zu fischen vielleicht oder um nach Strandgut zu suchen? Die Insel war seine Heimat. Was immer zwischen ihm und seiner Familie vorgefallen war, war ein Teil von ihm. Hatte er ihn wirklich vollständig losgelassen?
Sie hatte Andrés nicht angerufen, um ihm von ihrem Treffen mit Schwester Julia zu erzählen und ihm zu berichten, was sie über Laura herausgefunden hatte. Und er hatte sie nicht angerufen. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, ihn noch einmal anzurufen? Er wusste, dass sein Vater krank war, und trotzdem hatte er ihr nichts davon erzählt. Er wusste, wie wichtig es für Ruby war, hierherzukommen, und dennoch hatte er nicht gewollt, dass sie reiste, geschweigedenn angeboten, sie zu begleiten. Wenn er nicht einmal in der Lage war, seinen eigenen Vater zu besuchen, der vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte, wenn er nicht zurückkommen und die anderen Familienmitglieder unterstützen konnte, wenn sie ihn brauchten, wie sollte er dann jemals Ruby emotional unterstützen? Also, das war absolut nicht die Art Mann, die Ruby suchte.
Das hatte Ruby auch Mel gesagt, die gestern angerufen und darauf gebrannt hatte zu hören, was es Neues
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