Julias Geheimnis
gesagt. »Sie heißt Schwester Julia.«
47. Kapitel
N ach einem einfachen Mittagessen, das aus einem Eintopf mit Fleisch und Gemüse und einer dicken Scheibe Brot bestand, unternahm Ruby mit Schwester Julia einen kurzen Spaziergang in die Wüste des campo . Schwester Julia erzählte ihr von ihren Eltern und ihren Schwestern. Sie schilderte Ruby, wie ihre Familie nach dem Spanischen Bürgerkrieg überlebt hatte und wie es dazu gekommen war, dass sie ihre Gelübde abgelegt hatte. Und Ruby hörte zu. »Sie haben sie sicher alle sehr vermisst«, meinte sie.
Schwester Julia nickte. »Ja«, sagte sie. »Sie fehlen mir immer noch.«
»Das verstehe ich.« Ruby dachte an ihre Familie, an ihre Eltern Vivien und Tom, die ihr so abrupt entrissen worden waren. Es war nicht leicht, plötzlich so allein dazustehen. Und vielleicht hatte sie deswegen so auf Andrés Marín reagiert. Er war so anders als alle Männer, die sie vorher gekannt hatte. Er war ein Mann, mit dem sie Zeit verbringen wollte, ein Mann, mit dem sie sich auf so vielen Ebenen verbunden fühlte und der zu verstehen schien, was sie durchmachte. Sie seufzte. Jedenfalls hatte sie das gedacht.
»Natürlich verstehen Sie das, mein Kind.« Schwester Julia tätschelte ihr die Hand. »Deswegen sind Sie ja auch zu mir geführt worden.«
Ruby lächelte. Aber es stimmte – es gab hier eine seltsame Übereinstimmung, genauso, wie es eine Verbindung zwischen ihr und Andrés gab. Jedenfalls hatte sie das geglaubt.Zwei Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen. So hatte es ausgesehen. Doch so war es nicht. Auch an diesen Gedanken musste sie sich gewöhnen. Doch im Moment sehnte sie sich einfach nur schmerzhaft nach ihm.
Während sie zurück zum Kloster gingen, erzählte Schwester Julia mehr über ihre Arbeit im Krankenhaus und gab Ruby weitere Informationen über den Arzt und seine Methoden. Sie sprach auch offener über ihre Gefühle gegenüber den Müttern und ihren Kindern. Dabei spürte Ruby ihren Schmerz und ihre Schuldgefühle und dachte unwillkürlich an Laura. Würde sie sie jemals finden? Vielleicht nicht. Vielleicht war es wichtiger, sie zu verstehen.
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Ruby zu Schwester Julia. Sie wusste bereits, wie sie ihren Artikel aufbauen würde. Es gab mehr als einen Standpunkt, mehr als eine Geschichte.
Schwester Julia senkte den Kopf. »Ich hätte mehr tun können, mein Kind«, sagte sie.
Ja, nun ja … »Sie sind nur ein Mensch. Wir alle könnten mehr tun.«
Sie kehrten ins Kloster zurück, und Schwester Julia machte Tee, während sich Ruby noch ein paar Notizen machte.
»Glauben Sie, der Doktor lebt noch?«, fragte sie Schwester Julia. Er war derjenige, der bestraft werden sollte. Er hatte die anderen für seine Zwecke benutzt und Kapital geschlagen aus Schwester Julias Unerfahrenheit, dem blinden Glauben ihrer Oberin an seine Ehrbarkeit und der fehlenden Zuversicht der Mütter, ihrem Kind ein gutes, zufriedenstellendes Leben bieten zu können. Diese Mütter waren in derselben Situation gewesen wie Laura, dachte sie. Dr. López hatte auch die Not der Adoptiveltern ausgenutzt, denn es waren Menschen, die sich so verzweifelt nach einem Kind sehnten,dass sie dafür fast alles getan und beinahe jeden Preis gezahlt hätten.
»Das bezweifle ich«, meinte Schwester Julia. »Sehen Sie mich an. Ich bin schon so alt, und er war noch einige Jahre älter als ich, obwohl mir der Altersunterschied damals größer vorkam.«
Ruby nickte. »Trotzdem …«
»Trotzdem.« Schwester Julia richtete sich im Sitzen auf, während sie den Tee einschenkte. Dann setzte sie die Teekanne ab und sah Ruby direkt in die Augen. »Ich möchte Sie gern nach Barcelona begleiten.«
Ruby blinzelte. »Wirklich?« Diese Option hatte sie gar nicht einbezogen. »Das ist nicht nötig …«
»Aber ja.« Schwester Julias Blick war fest. »Vorhin haben Sie gesagt, wir könnten alle mehr tun, mein Kind. Und es gibt eines, was ich noch tun muss. Ich muss an die Orte von früher zurückkehren.«
»Die Orte von früher?« Aber Ruby wusste, was sie meinte.
»Mein Barcelona. Das Kloster Santa Ana.« Schwester Julias Augen glänzten und blickten ganz entrückt. Vielleicht dachte sie zurück an die Zeit vor vielen Jahren, als sie als junges Mädchen von siebzehn nach Santa Ana gekommen war. »Und die Canales-Klinik.« Sie kehrte wieder in die Gegenwart zurück und griff nach ihrer Teetasse. »Ich muss noch einmal dorthin, mein Kind. Auch ich muss meine
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